Krankheit.

[151] Ohne Zweifel wird es dem Kranken und seinen Angehörigen nicht unlieb sein, Aufmerksamkeiten aus dem Freundes- und Bekanntenkreisen zu erfahren. Durch freundliche Erkundigungen nach dem Befinden des Patienten kann man kaum lästig werden. Bei ernsten Erkrankungsfällen werden dieselben sogar zur Pflicht. Mit Besuchen sei man indes vorsichtiger; denn diese sind durchaus nicht immer angebracht und werden besser auf die Zeit der Genesung verschoben. Nachfragen kann man auch durch die Dienerschaft erledigen lassen, was sogar ratsamer ist.

Wer Zutritt in das Krankenzimmer erhält, befleißige sich der größten Ruhe und Gelassenheit. Nur keine lauten Ausbrüche der Verwunderung über das elende Aussehen des Patienten oder andere Lamentationen! Sie wirken niederdrückend auf den Kranken. Man trachte danach, seinen Mut zu beleben und ihm die Überzeugung beizubringen, daß die Krankheit seine Kräfte wenig angegriffen hat. Das Gespräch bewege sich auf Gebieten, die dem Kranken Interesse einflößen. Mit herzlicher Teilnahme frage man nach Ergehen, Appetit, Schlaf u. dergl. folge geduldig der eingehendsten Schilderung des Leidens und spreche sein Mitgefühl in inniger Weise aus. Dem Kranken aber sei dringend empfohlen, sich nicht zu Berichten hinreißen zu lassen, die das Zart- und Schicklichkeitsgefühl verletzen, wie dieses leider häufig geschieht.

Der Besucher wähle seinen Platz nicht unmittelbar am Krankenbette, und achte darauf, daß der Leidende ihn ansehen kann, ohne Augen oder Hals in eine unbequeme Lage bringen zu müssen. Die Aufstellung am Kopfende hinter dem Bette ist ebenso belästigend, wie das Sitzen auf dem Bettrande. Der Besuch darf nur auf sehr dringenden Wunsch über 15 Minuten ausgedehnt werden. Ist jemand[151] jedoch ständig an das Krankenlager gefesselt, so braucht man nicht so ängstlich nach der Uhr zu sehen. Man kann darauf rechnen, hier für eine Stunde und sogar länger angenehm zu sein. Immer aber ziehe man sich möglichst geräuschlos zurück, sobald der Arzt eintritt.

Bei nahen Freundschaftsbeziehungen pflegt man dem Kranken Blumen und Erfrischungen zu senden oder auch wohl persönlich zu bringen. Das kann keinen Anstoß erregen, selbst wenn der Arzt die duftigen Sträuße aus dem Krankenzimmer entfernen läßt oder den Genuß der Eßwaren nicht gestattet.

Ansteckende Krankheiten sprechen ohne weiteres von Besuchen frei. Ja, die Angehörigen des Patienten müssen sogar streng darauf halten, daß dieselben unterbleiben; denn ihnen fällt die Verantwortung dafür zu.

Zuweilen kommt es vor, daß Freunde, die sich vorübergehend bei uns aufhalten, ernstlich erkranken. Das ist nicht angenehm und bringt viel Unruhe und Unbequemlichkeiten mit sich. Aber da heißt es aushalten und die Prüfung ruhig hinnehmen. Nur kein angstvolles Hasten, kein unschickliches Drängen, den Leidenden aus dem Hause zu schaffen! Bei langwierigen Krankheiten werden die Angehörigen des Gastes selbstredend Sorge tragen, den Gastfreunden die Last der Pflege abzunehmen, und dieses geschieht am besten dadurch, daß der Kranke nach Hause gebracht wird. Wo das nicht angängig ist, sind die segensreichen Krankenhäuser eine treffliche Aushilfe.

Von jedem Leidenden aber fordert die gute Lebensart Ausdauer, Geduld, Ergebung und Selbstbeherrschung. Er hüte sich, seine Umgebung durch übertriebene Ansprüche oder Ausbrüche der Klage und des Schmerzes zu quälen und zu ermüden, füge sich den Anordnungen des Arztes und seiner Pfleger und zeige sich dankbar für jede Hilfeleistung, die ihm zu teil wird.

Ereilt ihn das Mißgeschick einer Erkrankung auf der Reise, so müssen die Mitreisenden mit Klagen und eingehenden Beschreibungen verschont werden. Handelt es sich nur um ein leichtes Unwohlsein, so ist es am besten, sich ganz ruhig zu verhalten und die Aufmerksamkeit so wenig wie möglich auf sich zu ziehen.

Zum Schlusse sei noch erwähnt, daß es Brauch ist, nach überstandenem schweren Krankenlaaer der Bediensteten des Hauses und der Armen in einem Geldgeschenk zu gedenken. Der erste Ausgang des Genesenen gilt dem Gotteshause.[152]

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 151-153.
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