IV. Halluzinationen betreffend
(Februar 1901)

[209] Unter Halluzinationen werden meines Wissens Nervenreize verstanden, vermöge deren der denselben ausgesetzte, in krankhafter Nervenverfassung befindliche Mensch die Eindrücke von irgendwelchen in der Außenwelt sich abspielenden, sonst namentlich dem Gesichts- und Gehörssinn zugänglichen Vorgängen zu haben glaubt, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Die Wissenschaft scheint nach Demjenigen, was ich darüber z.B. bei Kräpelin, Psychiatrie Bd. I, Seite 102 ff. der 6. Auflage lese, für alle Halluzinationen die Existenz eines realen Hintergrundes zu verneinen. Dies ist nach meinem Dafürhalten mindestens in solcher Allgemeinheit entschieden unrichtig. Auch ich bezweifele zwar keineswegs, daß in sehr vielen, wenn nicht den meisten Fällen die bei den Halluzinationen vermeintlich wahrgenommenen Gegenstände und Vorgänge nur in der Vorstellung der Halluzinanten selbst vorhanden sind. Unzweifelhaft verhält es sich z.B. so in den auch mir als Laien bekannten Fällen, daß ein am delirium tremens Leidender etwa »Männle« oder »Mäusle« zu sehen glaubt, die natürlich in Wirklichkeit nicht existieren. Das Gleiche mag für viele andere der von Kräpelin besprochenen Gesichts- und Gehörstäuschungen (vergl. Bd. I, Seite 145 ff. der 6. Auflage) angenommen werden dürfen. Allein sehr erhebliche Bedenken dürften sich einer derartigen, ich möchte sagen, rationalistischen oder rein materialistischen Auffassung in denjenigen Fällen entgegenstellen, wo man es mit Stimmen »von übernatürlichem Ursprunge« (vergl. Kräpelin Bd. I, Seite 117 der 6. Aufl.) zu thun hat. Ganz sicher kann ich natürlich nur von meinem eigenen Falle behaupten, daß bei den betreffenden Nervenreizen in der That eine von außen her wirkende Ursache in Frage steht; es liegt aber nahe, daß ich aus den Erfahrungen, die ich an mir selbst mache, die Vermuthung ableite, es könne sich auch in vielen anderen Fällen ähnlich verhalten oder verhalten haben, d.h. es könne auch bei anderen Menschen Dasjenige, was man sonst nur als subjektive Nervenreize (Sinnestäuschungen, Halluzinationen oder laienmäßig ausgedrückt, leere Hirngespinste) aufzufassen geneigt ist, doch, wenn auch in ungleich schwächerem Maße, als bei mir der Fall ist, auf einer objektiven Ursache beruhen, mit anderen Worten, der Einfluß übersinnlicher Faktoren sich geltend machen.

Um diesen Gedanken verständlich zu machen, werde ich versuchen, die Gesichts- und Gehörseindrücke, die ich als »Stimmen«, »Visionen«[210] u.s.w. empfange, noch etwas näher zu beschreiben. Dabei betone ich von Neuem, wie schon an anderer Stelle (Kap. VI der Denkwürdigkeiten) geschehen, daß ich nicht im mindesten Anstand nehme, das Vorhandensein eines krankhaft erregten Nervensystems als Voraussetzung für das Hervortreten aller derartiger Erscheinungen anzukennen. Menschen, die so glücklich sind, sich gesunder Nerven zu erfreuen, können (in der Regel wenigstens)1 keine »Sinnestäuschungen«, »Halluzinationen«, »Visionen« oder welche Ausdrücke man sonst für die betreffenden Vorgänge wählen mag, haben; es wäre daher gewiß zu wünschen, daß alle Menschen von Erscheinungen der besprochenen Art befreit bleiben; sie würden sich wahrscheinlich dann in den meisten Fällen subjektiv ungleich wohler fühlen. Damit ist aber meines Erachtens keineswegs gesagt, daß die aus der krankhaften Beschaffenheit des Nervensystems resultierenden Vorgänge überhaupt der objektiven Realität entbehren, d.h. als Nervenreize anzusehen seien, denen jede äußere Ursache fehle. Eben deshalb vermag ich durchaus nicht in die Verwunderung einzustimmen, die Kräpelin an verschiedenen Stellen seines Werkes (z.B. Bd. I S. 112, 116, 162 ff. der 6. Auflage) darüber ausspricht, daß die »Stimmen« u.s.w. über die Gesichts- und Gehörshalluzinationen meist eine viel höhere überzeugende Gewalt behaupten, als »alles Reden der Umgebung«. Der Mensch mit gesunden Nerven ist eben Demjenigen gegenüber, der in Folge seiner krankhaften Nervenverfassung übersinnliche Eindrücke empfängt, sozusagen geistig blind; er wird daher den Visionär ebenso wenig von der Unwirklichkeit der Visionen überzeugen können, wie etwa der körperlich sehende Mensch von dem (körperlich) Blinden sich einreden läßt, daß es keine Farben gebe, Blau nicht Blau, Roth nicht Roth sei u.s.w. Dies vorausgeschickt, theile ich über die Natur der mit mir redenden Stimmen und die mir zu Theil werdenden Visionen das Folgende mit.

Die »Stimmen« äußern sich bei mir als Nervenreize, die, wie bereits in den Denkwürdigkeiten hervorgehoben mit alleiniger Ansnahme einer einzigen Nacht, Anfang Juli 1894, Kap. X im Anfang – durchweg den Charakter leise lispelnder Geräusche von dem Klange bestimmter menschlicher Worte haben. Inhaltlich und namentlich in Ansehung des Tempos, in welchem gesprochen wird, haben sie im Laufe der Jahre die allermannigfaltigsten Veränderungen erfahren.

Das Wichtigste ist darüber bereits in den »Denkwürdigkeiten« mitgetheilt worden; vorherrschend ist namentlich in Folge der stylistischen Unvollständigkeit der gebrauchten Redensarten der reine Blödsinn und eine ansehnliche Menge von Schimpfworten, die lediglich auf meine Aufreizung berechnet sind d.h. mich veranlassen sollen, das zu gewissen Zeiten zum Schlafe erforderliche Schweigen zu brechen. Wenn aufreizende Stimmen nach Kräpelin Bd. 1, Seite 116 der 6. Auflage auch[211] von anderen Gehörshalluzinanten vernommen werden sollen2, so ist dagegen ein Umstand bei mir zu bemerken, der, wie ich glaube, meinen Fall so charakteristisch aus allen ähnlichen Erscheinungen heraushebt, daß eine Parallele zwischen den bei mir vorhandenen Sinnesreizen und den etwa sonst bei anderen Menschen vorkommenden Halluzinationen gar nicht gezogen werden kann, folglich auch auf eine gänzlich davon entschiedene Ursache geschlossen werden muß. Ich nehme an, obwohl ich darüber natürlich nicht genau unterrichtet sein kann, daß es sich bei anderen Menschen nur um intermittirende Stimmen handelt, also die Halluzinationen nur in mehr oder weniger großen, von stimmenfreien Zuständen unterbrochenen Pausen auftreten. Bei mir dagegen sind Pausen des Stimmengeredes überhaupt niemals vorhanden; seit den Anfängen meiner Verbindung mit Gott – mit alleiniger Ausnahme der allerersten Wochen, wo es neben den »heiligen« noch »unheilige« Zeiten gab (vergl. Kap. VI der Denkwürdigkeiten gegen das Ende) – also seit nunmehr nahezu sieben Jahren habe ich – außer im Schlafe – niemals auch nur einen einzigen Augenblick gehabt, in dem ich Stimmen nicht vernommen hätte. Sie begleiteten mich an jedem Orte und bei jeder Gelegenheit; sie ertönen weiter, auch wenn ich mit anderen Menschen ein Gespräch unterhalte; sie nehmen unbehindert ihren Fortgang, auch wenn ich mich noch so aufmerksam mit anderen Dingen beschäftige, z.B. ein Buch oder eine Zeitung lese, Klavier spiele usw., nur werden sie natürlich, solange ich selbst mit anderen Menschen laut rede oder im Alleinsein laut spreche, von dem stärkeren Klange des gesprochenen Wortes übertönt und auf so lange zeitweise für mich nicht hörbar. Das sofortige Wiedereinsetzen der mir wohlbekannten Phrasen, nach Befinden mit einem aus der Mitte derselben herausgegriffenen Klange, läßt mich aber auch solchenfalls erkennen, daß der Faden der Unterhaltung inzwischen weiter gesponnen worden ist, d.h. die Sinnesreize oder Nervenschwingungen, durch welche die den Stimmen entsprechende schwächere Klangwirkung hervorgerufen wird, auch während meines Lautsprechens fortgedauert haben.

Dabei hat die Verlangsamung des Tempos, mit welchem gesprochen wird und deren ich bereits in Kap. XX der Denkwürdigkeiten gedacht habe, auch in der seitdem verflossenen Zeit in einer fast alle Vorstellungen übersteigenden Weise mehr zugenommen. Der Grund davon ist bereits früher angegeben worden; je mehr die Seelenwollust meines[212] Körpers sich gesteigert hat – und diese ist in Folge des ununterbrochen fortdauernden Zuströmens von Gottesnerven in rapidem, stetigem Wachsthum begriffen, um so mehr ist man genöthigt, die Stimmen immer langsamer sprechen zu lassen, um mit den dürftigen, immer wiederkehrenden Phrasen,3 über die man verfügt, die ungeheueren Entfernungen, welche die Ausgangsstellen von meinem Körper trennen, zu überbrücken. Das Gezisch der Stimmen läßt sich daher jetzt am ersten mit der Klangwirkung vergleichen, die das Geräusch des aus einer Sanduhr herabträufelnden Sandes verursacht. Einzelne Worte kann ich zumeist gar nicht mehr unterscheiden oder würde sie nur mit gespanntester Aufmerksamkeit unterscheiden können. Natürlich nehme ich mir aber nicht die mindeste Mühe dies zu thun, sondern suche im Gegentheil Dasjenige, was gesprochen wird, möglichst zu überhören. Freilich kann ich dabei nicht vermeiden, daß wenn ich doch einzelne Worte aus dem mir wohlbekannten Phrasenmaterial vernehme, sich dann unwillkürlich die Erinnerung an den mir in Folge der tausendfältigen Wiederholung der betreffenden Phrasen bekannten Fortgang derselben einstellt und also dann der »unwillkürliche Erinnerungsgedanke«, wie die Erscheinung in der Seelensprache genannt wird, von selbst eine Fortschwingung meiner Nerven bis zum Abschlusse dieser Phrasen veranlaßt. Auf der andern Seite verschafft mir gerade die übermäßige Verlangsamung des Tempos, die zunächst und längere Zeit hindurch als eine Erhöhung der nervösen Ungeduld (vergl. Kap. XVI der Denkwürdigkeiten) von mir empfunden wurde, eine mehr und mehr wahrnehmbare Erleichterung. Solange ich auf die Stimmen hörte und unwillkürlich hören mußte, war die oft sekundenlang andauernde Verzögerung der erwarteten Fortsetzung für mich über die Maßen peinlich; nachdem aber neuerdings die Verlangsamung noch weiter fortgeschritten ist, sodaß die Stimmen, wie bereits erwähnt, überwiegend zu einem unverständlichen Gezisch ausarten, ist es mir möglich geworden, mich daran zu gewöhnen, daß ich, solange ich nicht eine Beschäftigung (Klavierspielen, Lesen, Schreiben u.s.w.) treibe, die die Stimmen ohnedies untergehen läßt, ich einfach in der Nervensprache anhaltend 1, 2, 3, 4 etc. zähle und mir damit Pausen des Denkens (den sog. »Nichtsdenkungsgedanken«) verschaffe. Ich erziele damit wenigstens den Erfolg, daß nunmehr ein Schimpfwort gesprochen werden muß, welches deutlich an mein geistiges Ohr schallt und das ich dann ruhig in beliebiger Wiederholung in meine Nerven hineinsprechen lasse. Das in solchen Fällen regelmäßig folgende Schimpfwort ist so gemein, daß ich es dem Papier nicht anvertrauen will; wer sich dafür interessieren sollte, könnte es aus vielen meiner verstreuten Aufzeichnungen entnehmen. Sind auf die angegebene Weise die[213] »inneren Stimmen« zum Schweigen gebracht, so ertönen dann in Folge der wieder nothwendig gewordenen Annäherung der Strahlen irgendwelche beliebige Worte aus den Kehlen der mit mir sprechenden Vögel von außen her an mein Ohr. Was diese inhaltlich ausdrücken, ist mir natürlich gleichgiltig; daß ich mich – nach jahrelanger Gewöhnung – nicht mehr beleidigt fühlen kann, wenn mir von einem Vogel, den ich gelegentlich fütterte, etwa zugerufen (oder richtiger zugelispelt) wird »Schämen Sie sich nicht« (vor Ihrer Frau Gemahlin)? und dergleichen, wird man verständlich finden. In dem Besprochenen liegt wiederum eine glänzende Bewährung des Satzung, daß jeder Unsinn, der auf die Spitze getrieben wird, schließlich einmal einen Grad erreicht, wo er sich selbst vernichtet – eine Wahrheit, die der niedere Gott (Ariman) selbst schon vor Jahren in häufiger Wiederholung in der Formel zum Ausdruck zu bringen pflegte »Aller Unsinn hebt sich auf«.

Ebenso wie die Gehörsreize (Stimmen, Gehörshalluzinationen) sind auch die Gesichtsreize (Gesichtshalluzinationen) bei mir zwar nicht ganz, aber doch annähernd in gleichem Maße perennirend. Ich sehe mit meinem geistigen Auge die Strahlen, die zu gleicher Zeit Träger der Stimmen und des auf meinen Körper abzuladenden Leichengiftes sind, als langgezogene Fäden von irgendwelchen, über alle Maßen entlegenen Orten am Horizonte nach meinem Kopfe herüberkommen. Sie werden nur meinem geistigen Auge sichtbar, wenn mir die Augen in Folge von Wundern geschlossen werden oder wenn ich die Augen freiwillig schließe, d.h. sie spiegeln sich dann in der angegebenen Gestalt als lange nach meinem Kopf züngelnde Fäden auf meinem inneren Nervensysteme. Ich nehme dieselbe Erscheinung in entsprechender Weise mit meinem körperlichen Auge wahr, wenn ich die Augen offenhalte, d.h. ich sehe dann jene Fäden gleichsam von irgend einer oder mehreren Stellen weit jenseits des Horizontes bald nach meinem Kopfe zustreben, bald sich wieder von demselben zurückziehen. Jedes Zurückziehen ist mit einer deutlich fühlbaren, zuweilen recht intensiven Schmerzempfindung in meinem Kopfe verbunden4. Die in meinen Kopf hineingezogenen Fäden – zugleich die Träger der Stimmen – beschreiben dann in meinem Kopfe eine kreisende Bewegung, die ich am ehesten damit vergleichen kann, als ob mein Kopf von innen heraus mit einem Schleifbohrer ausgehöhlt werden sollte.[214]

Daß damit recht unangenehme Empfindungen verbunden sein können, wird man sich vorstellen können; der eigentliche körperliche Schmerz ist jedoch wenigstens jetzt – schon seit einer Reihe von Jahren – das Nebensächliche. Der Mensch kann sich eben im Punkte körperlicher Schmerzen an sehr Vieles gewöhnen, was Demjenigen, der die Erscheinung zum ersten Male an seinem Körper erlebte, über die Maßen erschrecken und ihm fast unerträglich dünken würde. So sind denn auch bei mir wenigstens in neuerer Zeit die Schmerzempfindungen, von denen ich an keinem Tage ganz verschont bleibe und die in ganz regelmäßiger Abwechslung mit Wollustzuständen auftreten, fast niemals von solcher Heftigkeit, daß ich an Vornahme irgendwelcher geistiger Beschäftigung, an ruhiger Unterhaltung mit anderen Menschen u.s.w. ernsthaft verhindert würde. Viel lästiger sind für mich die Brüllzustände, die als regelmäßige Begleiterscheinungen eines Strahlenrückzugs auftreten, einmal weil ich es natürlich als unwürdig empfinde, in Folge der gegen mich geübten Wunder gewissermaßen wie ein wildes Thier brüllen zu müssen und sodann, weil das Brüllen bei anhaltender Wiederholung eine sehr unangenehme, in gewissem Sinne ebenfalls schmerzhaft zu nennende Erschütterung des Kopfes hervorruft. Trotzdem bin ich darauf angewiesen, das Brüllen, wenn es ein gewisses Maß nicht übersteigt, zu manchen Zeiten über mich ergehen zu lassen, namtlich in der Nacht, wo die sonst zur Abwehr geeigneten Mittel: lautes Sprechen, Klavierspielen usw. nicht oder nur in beschränktem Maße anwendbar sind. Das Brüllen bietet mir dann den Vortheil, daß Alles, was weiter in meinen Kopf hineingesprochen wird, von dem Getöse des Brüll lautes selbst übertönt wird, sodaß bald wieder eine Vereinigung aller Strahlen eintritt, die unter Umständen zum Wiedereinschlafen führt oder mir wenigstens am frühen Morgen, wenn die Zeit des Aufstehens nahegerückt ist, aber mein Wohnzimmer wegen der darin erforderlichen Vorkehrungen des Lüftens, Reinmachens u.s.w. noch nicht für mich betretbar ist, mir wenigstens das Verbleiben im Bette in einer zuweilen körperlich überaus wohligen Verfassung ermöglicht.

In allen Stücken muß mich eben der für die Strahlen anscheinend unverständliche, für den Menschen aber so unendlich wichtige Zweckgedanke leiten, d.h. ich muß mich in jedem gegebenen Augenblick fragen: Willst du jetzt schlafen oder wenigstens ausruhen oder eine geistige Beschäftigung treiben oder eine körperliche Funktion verrichten, z.B. selbst ausleeren usw.? Zur Erreichung jedes Zweckes ist bei mir in der Regel eine Vereinigung aller Strahlen erforderlich, selbst zum Ausleeren, denn, wie schon früher erwähnt (Kap. XXI der Denkwürdigkeiten am Ende), sucht man, obwohl man viel vom »Sch ......« spricht, doch jedesmal dann, wenn es wirklich zum Ausleeren kommen soll, den Ausleerungsdrang wegen der durch die Befriedigung desselben entstehenden Seelenwollust durch Wunder wieder zurückzudrängen. Ich muß daher, wenn die Zeit zum Schlafen, Ausleeren usw. da ist, nach Befinden selbst eine Zeitlang andere Uebelstände, wie das Brüllen usw. vorübergehend[215] in den Kauf nehmen, um den in concreto verfolgten und für das allgemeine körperliche Wohlbefinden nun einmal erforderlichen Zweck wirklich zu erreichen; das Ausleeren insbesondere, das sonst durch Wunder zu hindern versucht wird, bringe ich jetzt am besten in der Weise fertig, daß ich auf dem Eimer vor dem Klavier sitze und solange Klavier spiele, bis ich erst pissen und dann – in der Regel mit einiger Anstrengung – auch wirklich ausleeren kann. So unglaublich dies Alles klingt, so ist doch Alles thatsächlich wahr; denn durch das Klavierspielen erzwinge ich jedesmal eine Wiederannäherung der Strahlen, die sich von mir zurückzuziehen versucht haben, und besiege dadurch den Widerstand, den man meiner Anstrengung, zum Ausleeren zu gelangen, entgegengesetzt hat.

In Betreff der Gesichtserscheinungen (Gesichtshalluzinationen) habe ich noch einige interessante Punkte nachzutragen. Zunächst habe ich zu bemerken, daß die nach meinem Kopfe züngelnden, allem Anscheine nach von der Sonne oder vielleicht auch noch von zahlreichen anderen entfernten Weltkörpern herkommenden Strahlenfäden nicht in gerader Linie, sondern in einer Art von Schleife oder Parabel auf mich zukommen, ähnlich etwa wie bei den Wettspielen der Römer die Streitwagen um die meta herumfuhren oder bei einem sogeannten Schleuderkegelschub die an einen Faden gebundene Kugel erst um einen Pfahl herumgeworfen wird, ehe sie in die Kegel selbst hineinfällt. Diese Schleife oder Parabel nahm ich in meinem Kopf (bei offenen Augen am Himmel selbst) deutlich wahr; die als Träger der Stimmen fungierenden Fäden kommen daher, obwohl sie anscheinend mindestens zum Theil von der Sonne ausgehen, in der Regel nicht aus der Richtung, wo die Sonne am Himmel wirklich steht, sondern aus einer mehr oder weniger entgegengesetzten Richtung. Ich glaube dies mit dem bereits früher (Kap. IX der Denkwürdigkeiten) besprochenen »Anbinden der Strahlen an Erden« in Verbindung bringen zu dürfen. Die direkte Annäherung der Strahlen muß eben durch ein mechanisches Hinderniß aufgehalten oder wenigstens verlangsamt werden, weil sonst die Strahlen in Folge der längst übermäßig gewordenen Anziehungskraft meiner Nerven in einer meinen Körper beständig mit Seelenwollust überschüttenden Weise auf mich zuschießen würden, mit anderen Worten, Gott, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich gar nicht am Himmel zu halten vermöchte. Dabei tauchen – jetzt in verhältnismäßig kurzen Zwischenräumen – helle Lichtpunkte in meinem Kopfe oder bei offenen Augen am Himmel auf. Es ist die Erscheinung, die ich früher (Kap. VII, Anmerkung 44 der Denkwürdigkeiten) als die »Ormuzdsonne« bezeichnet habe, weil ich der Meinung war, daß die Lichtpunkte als Reflexwirkungen eines bestimmten ungeheuer entfernten Weltkörpers anzusehen seien, der eben in Folge seiner ungeheueren Entfernung für das menschliche Sehvermögen nach Art der Sterne die Gestalt einer winzigen Lichtscheibe oder eines Lichtpunktes annehme. Nach den unzähligen gleichartigen Beobachtungen, die ich im Laufe der Jahre weiter gemacht habe,[216] bin ich geneigt, diese Auffassung in etwas zu berichtigen. Ich glaube jetzt annehmen zu dürfen, daß die Lichtpunkte vielmehr die von der Gesammtmasse der Nerven des oberen Gottes (Ormuzd) losgelösten Strahlentheile sind, die nach Erschöpfung der mit Leichengift beladenen unreinen Strahlenfäden jeweilig erstmalig als reine Gottesstrahlen zu mir heruntergeschleudert werden. Diese Auffassung stütze ich darauf, daß ich die Lichtpunkte meist gleichzeitig mit den als Gehörseindruck auftretenden Hülferufen wahrnehme, sodaß ich anzunehmen habe, daß die Hülferufe eben von diesen in irgendwelchem Angstzustand herabgeschleuderten, für das Auge in Folge ihrer Reinheit als Lichteindruck sich darstellenden Strahlen oder Nerven des oberen Gottes herrühren. Darüber, daß es sich dabei um Nerven des oberen Gottes handelt, habe ich aus Gründen, die hier näher darzulegen zu weit führen würde, nicht den mindesten Zweifel. Auch dafür, daß die Hülferufe nur für mich, nicht für andere Menschen wahrnehmbar sind (vergl. Kap. XV der Denkwürdigkeiten), glaube ich jetzt eine befriedigende Erklärung gefunden zu haben. Es liegt vermuthlich eine ähnliche Erscheinung vor wie beim Telephonieren, d.h. die nach meinem Kopfe ausgesponnenen Strahlenfäden wirken ähnlich wie die Telephondrähte, sodaß die an und für sich nicht allzu kräftige Klangwirkung der anscheinend in sehr bedeutender Entfernung ausgestoßenen Hülferufe in derselben Weise nur von mir empfunden werden kann, wie nur der telephonisch angeschlossene Adressat, nicht aber beliebige dritte Personen, die sich zwischen der Ausgangsstelle und dem Bestimmungsorte befinden, das mittelst Telephons Gesprochene zu hören vermögen.

1

Als denkbare Ausnahme vergegenwärtige ich mir z.B. die Fälle, in denen wir nach biblischen Berichten von visionsartigen Vorgängen hören.

2

Daß, wie Kräpelin Bd. I, Seite 116 der 6. Auflage berichtet diese aufreizenden Stimmen von manchen Halluzinanten für von grunzenden Schweinen, schimpfenden oder bellenden Hunden, krähenden Hähnen u.s.w. ausgehend gehalten werden, beruht nach meinem Dafürhalten auf ganz derselben Erscheinung, deren ich im Kap. XVII der Denkwürdigkeiten am Schlusse bei Besprechung der subjektiven Gefühle der scheinbar sprechenden Kettendampfer, Eisenbahnen usw. gedacht habe. Es handelt sich insoweit offenbar nur um ein bloßes Mitklingen gleichzeitig gehörter äußerer Geräusche zu den als Nervenreize vernommenen Stimmen, sodaß diese Geräusche die von den Stimmen gesprochenen Worte wiederzugeben scheinen. Wohl zu unterscheiden davon sind wenigstens bei mir die wirklich sprechenden Stimmen der Vögel, der Sonne usw.

3

»Hätten Sie nicht Seelenmord getrieben«; »nun muß er doch wohl mürbe sein«; »das will ein Senatspräsident gewesen sein«; »schämen Sie sich denn nicht« scil. vor Ihrer Frau Gemahlin; »warum sagen Sie's nicht« scil. laut? »sprechen Sie noch« scil. fremde Sprachen? »das war nu nämlich« scil. nach der Seelenauffassung zuviel u.s.w. u.s.w.

4

Häufig auch an anderen Körpertheilen, je nachdem das Leichengift außer im Kopfe von anderen Strahlenfäden irgendwo anders abgeladen wird. Hierbei kommen eigentlich alle übrigen Körpertheile abwechselnd in Betracht; bald wird der Bauch (dies stets unter der gleichzeitigen Frage: »Warum sch ..... Sie denn nicht?«) mit Unrath gefüllt, sodaß ein bisweilen bis zu plötzlicher Diarrhöe sich steigernder Ausleerungsdrang entsteht; bald entstehen Stiche in den Lungen, im Samenstrang, Lähmung der Finger (namentlich beim Klavierspielen und Schreiben), bald mehr oder weniger heftige Schmerzen in den unteren Extremitäten (Kniescheibe, Oberschenkel, Anschwellen der Füße, sodaß die Stiefel drücken), wenn ich marschiere usw. usw. Uebrigens beruhen nicht alle Wunder auf Abladen von Leichengift, sondern sind – ohne Dazwischenkunft des letzteren – in vielen Fällen, wie beim Schließen der Augen, allen Lähmungserscheinungen usw., offenbar eine unmittelbare Aeußerung der Strahlenkraft.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 209-217.
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