Zweite Nachschrift

[260] Inzwischen ist bekanntlich auch die Ministerialverordnung vom 30. Mai 1894 schon wieder durch eine andere Verordnung, die Verordnung, die[260] Unterbringung von Kranken in Privat-Irrenanstalten betreffend, vom 9. August 1900 (G.- u.V.-Bl. S. 887 ff.) und das Regulativ vom 31. Juli 1893 durch das Regulativ für die Unterbringung in eine Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke vom 1. März 1902 (G.- u.V.-Bl. S. 39 ff.) ersetzt worden.

Einige Modifikationen mag das in dem vorstehender Aufsatz Entwickelte für Sachsen dadurch erleiden; von erheblicher grundsätzlicher Bedeutung sind diese Modifikationen jedenfalls nicht. Vor allen Dingen ist wiederholt zu betonen, daß es sich bei den erwähnten Verordnungen und Regulativen nicht um Akte der Gesetzgebung handelt. Sollten sich daher je in einem Falle die Gerichte mit der Frage einer Freiheitsberaubung civilrechtlich oder strafrechtlich zu beschäftigen haben, so würden die in der neueren Verordnung und dem neuer Regulative enthaltenen Bestimmungen jedenfalls nicht schlechthin oder allein als maßgebend zu betrachten sein. Wenn beispielsweise die Verordnung vom 9. August 1900 in § 6 hinsichtlich der sogenannten »freiwilligen Pensionäre« einer Privat-Irrenanstalt (d.h. solcher Kranker, die aus eigener Entschließung in die Anstalt eintreten) die Bestimmung enthält, daß die Entlassung eines freiwilligen Pensionärs auf seinen Antrag oder denjenigen des gesetzlichen Vertreters »in jedem Falle unverweilt« bewilligt werden muß, so wird doch nicht ohne Weiteres angenommen werden dürfen, daß jede Verzögerung der Entlassung als widerrechtliche Freiheitsberaubung anzusehen sei, die eine civilrechtliche oder strafrechtliche Verantwortlichkeit des Leiters der Anstalt begründe. Man wird sich dabei vergegenwärtigen müssen, daß die Unterscheidung zwischen bloßen »Gemüthskranken« und »Geisteskranken« eine äußerst schwierige ist und die betreffenden Krankheitsformen häufig in kaum merklichen Übergängen sich einander nähern.

Es kann also sehr wohl vorkommen, daß der Zustand eines »Gemüthskranken«, der sich aus eigener Entschließung als »freiwilliger Pensionär« in eine Privat-Irrenanstalt begeben hat, sich während des Aufenthaltes in derselben dergestalt verändert, daß die sofortige Entlassung (wegen Selbstmordgedanken) für den Patienten selbst gefährlich wäre. Die Bestimmung in § 5 Abs. 2 der Verordnung vom 9. August 1900 kann in einem solchen Falle nicht herangezogen werden, da dieselbe nur von »gemeingefährlichen« Geisteskranken oder Geistesschwachen handelt. Soll des halb ein gewisser Aufschub der Entlassung (zu dem Zwecke der Benachrichtigung der Polizeibehörde oder der Angehörigem wegen Überführung in eine öffentliche Heilanstalt) dem Leiter der Privatanstalt unter allen Umständen als widerrechtliche Freiheitsberaubung angerechnet werden? Wie mir scheint, würde es doch recht erhebliche Bedenken haben, diese Frage zu bejahen.[261]

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 260-262.
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