Freiberg.

[75] Der Postwagen kam mit uns des Sonnabends 5 Uhr an. Unsere Wohnung war bestellt; ich zerstreute mich, so gut es mir möglich war, und half meiner Mutter bei dem Auspacken. Des Abends klagte ich über heftiges Kopfweh. »Es kömmt vom Bücken,« sagte meine Mutter, »lege dich nieder, morgen wird es besser sein.« Der Sonntag kam; ich zwang mich zum Aufstehen. Meine Eltern, die den Nachmittag mit uns ausgehen wollten, die Stadt und den Wall zu besehen, hatten befohlen, uns anzukleiden. Ich frisierte mich, so sauer es mir wurde, und zog mich an. Meine Eltern hofften, daß, wenn ich erst ging, es mir in der schönen Frühlingsluft wohl besser werden würde; so ging ich mit ihnen fort. Weiß aber nichts weiter, als was man mir wiedersagte. Wie ich auf den Wall gekommen, wäre ich umgefallen. Sie mußten mich nach Hause tragen lassen. Ich bekam ein hitziges Fieber und die Frieseln, lag drei Wochen ohne Sinn und Verstand. Zu sehr hatte ich meinen Gram unterdrückt, es mußte ins Blut wirken. Alles zweifelte an meinem Aufkommen. Meine Eltern waren untröstlich.

Doch wie niemals ein Unglück allein kommt, ohne von mehreren begleitet zu werden, so ging es auch jetzt. Sie mochten vier oder fünf Komödien zusammen gespielt haben, als die preußische Truppen Order zum Marsch erhielten. Von den Stadtleuten kam keine Seele. Sogleich hörten die Komödien von selbst auf. Kein Geld, um sich selbst zu erhalten, viel weniger, einen Kranken zu verpflegen. Meine Eltern wollten einen Versatz machen, aber da war kein Mensch, der Geld herborgen wollte. Endlich wurde meinem Vater der Rat gegeben, er solle zum dasigen Schergen oder[75] Büttel, wie man ihn gewöhnlich heißt, hingehen. »Wenn Ihnen der nichts borgt, so bekommen Sie kein Geld auf Versatz in der ganzen Stadt.« Mein Vater ging mit meinem Bruder hin, stellte ihm seine Not vor und bat um 30 oder 40 Gulden. »Herr,« sagte mein Vater, »hier gebe ich Ihnen meine Handschrift; hilft mir Gott, und der Versatz steht nur acht Tage, so will ich Ihnen für Jahr und Tag die Interessen bezahlen. Wo nicht, so versetze ich es auf ein Jahr und einen Tag, und löse ich es binnen der Zeit nicht ein, so sind die Sachen Ihre.« Der Mann war's zufrieden und wollte den Versatz sehen, ehe er das Geld hergab. Meine Eltern, die nicht glaubten, daß ich davonkommen würde, hatten denn alle meine Kleiderchen, Schmuck, der all in unechten Steinen bestand, aber gut gefaßt war, nebst ein paar Kleidern von meiner Mutter zusammengepackt. 20 Taler wurden ihnen darauf geborgt. Der Scherge sagte: »Freilich ist es davor nicht angeschafft, aber es ist Krieg, und ich kann nicht mehr geben.« Mein Vater war froh, daß er das hatte, und bezahlte zuerst unsern Wirt, der in der Tat mehr Büttel war, wie der, dem es sein Amt war, und meinen Eltern keine Woche die Zimmer auf Kredit lassen wollte. Kochen tat die Mutter selbst, um wohlfeiler leben zu können.

Endlich erholte ich mich; die Gefahr war vorbei, nur daß man mich auf dem Arm wie ein Kind tragen mußte. In diesen Umständen, wo ich denn des Tags zwei, drei bis vier Stunden auf einem Stuhl sitzen konnte, verfiel meine Mutter und bekam so wie ich das hitzige Fieber und den Friesel. Nun tat mein Bruder alles; er kaufte ein, kochte, haute Holz, trug Wasser, bettete auf, war unermüdet. Das Geld war längst all, und schon hatten meine Eltern verschiedene Sachen anfangen zu verkaufen, wovon sie dann freilich nicht den vierten Teil bekamen, was sie wert waren. Als meine Mutter so schlecht war und wir wieder nichts hatten, mein Vater rumsuchte, was er wohl zu Gelde machen könnte, sagte mein Bruder: »Wissen Sie was, Papa, die Leute haben hier kein Geld, ich will mit den Sachen nach Dresden gehen, dort bekomme ich doch mehr. Wie bald laufe ich die vier Meilen hin. Ich will alles so richten, daß Papa nur das Fleisch und[76] die Suppe für Mama wärmen darf. Gleich nach Tisch laufe ich fort, und übermorgen früh, will's Gott, bin ich wieder bei Ihnen.« »In Gottes Namen,« sagte mein Vater, »aber nimm dich in acht!«

Es war an einem Freitag. Den Sonntag morgen werde ich wach durch ein lautes Rufen von meinem Vater, der sagte: »Gott, steh' ihm bei!« »Was gibt es?« Mein Vater sieht mich starr an und antwortet mir: »Nichts. Schlaf, schlaf ruhig, du brauchst Kräfte.« »Gott, mein lieber Papa, was ist Ihnen? Sie sind blaß wie der Tod.« »Nichts, Line, sei ruhig, aber frag' mich nicht!« Er faltete seine Hände, betete laut; doch waren es mehr Ausrufungen, wie Gebet. Der Angstschweiß lief ihm von seinem Gesicht, und er verriet in allen seinen Bewegungen, die er machte, die schrecklichste Angst. Als ich erwachte, war die Uhr 5. Ich verließ meinen Vater mit keinem Auge, weinte still und betete zu Gott, er möchte meinen Vater erhören. Kaum hatte es 9 Uhr geschlagen, als was mit schnellen Schritten die Treppe heraufkam und mein Bruder ganz atemlos ins Zimmer stürzte. Bei seinem Anblick rief mein Vater: »Gott, du hast mein Gebet erhört. Amen!« Mein Bruder legte das Geld hin und legte Bericht von seinem guten Kauf ab. Dann, wie er damit fertig war, sagte er: »Ach, Papa, ich war in einer großen Angst.« »Wieso, Karl?« »Ich glaubte, einen näheren Weg zu gehen, den man mir in Dresden gesagt hatte, und verirrte mich im Wald. (Denn von Kesselsdorf, ungefähr ein oder zwei Stunden von Dresden, fängt der Wald an und nimmt erst sein Ende bis nahe an der Stadt Freiberg.) Ich kam ins Gebüsch, konnte weder vor noch rückwärts. Da kamen zwei Kerls, die fragte ich um den nächsten Weg. Sie sagten, ich solle nur mit ihnen gehen. Ich tu es, aber sie führten mich links, statt rechts, und eben, weil ich zu sehr links gegangen war, wurde ich irr. Denn rechts, wußte ich wohl, war die Landstraße. Ich sagte ihnen solches. ›Junge, räsonnier nicht, und komm' mit uns‹ – sie packten mich – da sehen Sie, mein ganzer Aermel ist ausgerissen. Ich hatte keinen Stock, nichts, also stellte ich mich, als wollte ich ruhig mitgehen. Ehe sie es sich aber versahen, gab ich einem mit der Faust einen heftigen[77] Schlag auf den Bauch, daß er zusammenfuhr, von dem andern, der ihm helfen wollte, riß ich mich los, und so lief ich in der Angst fort. Ich weiß selbst nicht, wie lange, und ich kam endlich auf die Landstraße, und bin gottlob glücklich bei Ihnen.« – »Ach, Papa,« rief ich, »das war wohl Ihre Angst?« »Ja, mein Kind, das war sie auch. Mir träumte, ich sah unsern Karl ausgezogen von Straßenräubern. ›Ich bin unter Mörder geraten,‹ schrie er, ›o mein Vater, helfen Sie mir!‹ Darauf erwachte ich. Gott Dank, der du mir meinen Sohn wiedergibst. Hast mir Tochter und nun den Sohn wiedergegeben. Ach, laß mir auch noch mein Weib, meinen Kindern ihre Mutter!«

So gingen denn wieder einige Tage hin; mittlerweile ich soweit war, daß ich, wenn ich mich an Stühle, Tisch und Wände anfassen konnte, ich auch allein gehen konnte, kam ich Karl zu Hilfe mit Kochen u. dergl. Viel war es nicht, denn meine und meines Bruders Kost waren Kartoffeln in Salz gestiebt. Das wenige Kalbfleisch blieb für den Vater und die Suppe für die Mutter. Einen Tag wurde es mit Reis gekocht, den andern mit Meiran und geriebener Semmel. Mein Vater, der vorbeugen wollte, daß ihn die hitzige Krankheit nicht auch anstecken sollte, ließ zur Ader, nahm zum Schwitzen und Abführen ein. Den 9. Juni des Morgens, als ich aufstand, rief mich mein Vater, daß ich ihm eine Zitronenscheibe, die in Zucker lag und die er sich den Abend vorher holen ließ, reichen sollte. Denn er sagte, sein Hals sei ihm so trocken. Die Sprache meines Vaters war nicht dieselbe; er lallte mehr, als daß er sprach. Ich frug ihn: »Ist Papa krank? Fehlt Papa was?« »Nein, mir ist recht wohl. Ich bin schläfrig und will schlafen. – Oh, gib mir noch eine Scheibe – so.« Mir war so bänglich. Gern hätte ich meinen Bruder geweckt. Aber der gute Junge wachte alle Nächte bei der kranken Mutter, und mich weckte er dann des Morgens um drei, vier Uhr, je nachdem er müde war, und schlief dann bis acht, neun Uhr, wenn ich ihn wieder weckte. So hatten wir es eingerichtet, um es uns so gut wie möglich zu erleichtern.[78]

Doch konnte ich den Morgen keine Ruhe haben und weckte meinen Bruder, daß es kaum sieben geschlagen hatte. »Mir ist's leid, lieber Karl, aber Papa spricht so seltsam. Du mußt es dem Doktor sagen, wenn du zu ihm gehst.« Denn wohl zu merken, der Doktor, der mir, nächst Gott, das Leben gerettet, lag selbst an einem hitzigen Fieber. Es war mit ihm zur Besserung gekommen, doch konnte er nicht ausgehen. Und der Barbier, der des Doktors rechte Hand war, ein sehr geschickter Mann, konnte uns nun auch nicht besuchen, weil er nicht allein seine, sondern auch des Doktors Patienten besuchen mußte. Und leider waren damals wenige Häuser in Freiberg, wo nicht Kranke im Friesel lagen. Die ganze Stadt war angesteckt; die Menschen starben wie Fliegen; täglich wurden 5 bis 6 Leichen vor unserm Fenster vorbei nach dem Kirchhof getragen. Also bloß nach der Aussage von dem Befinden meiner Mutter richtete der Doktor die Medizin ein.

Der Bruder überzeugt sich, daß es mit dem Vater schlimm steht und läuft zum Doktor, der ein Gurgelwasser für Halsverschleimung verschreibt. Als aber der Barbier mit seinem Gesellen kommt, um die Einspritzung vorzunehmen, schüttelt er vielbedeutend den Kopf und sagt: »Oh, ihr armen Kinder!« Durch Karl schickt er etwas Lateinisches an den Doktor.

Ich stand am Fenster, wie festgeleimt – alles war mir wie im Traum – ich war betäubt. Sie legten meinen Vater nieder. Der Barbier kam auf mich zu, faßte mich bei der Hand und sagte: »Fassen Sie sich, armes Kind. Ihr Vater muß sterben. Der Schlag hat ihm die Zunge gelähmt.« »Ach, Gott!« war alles, was ich sagen konnte, und mein Kopf sank auf des Mannes Brust. Er weinte mit seinem Gesellen.

Nachdem er ihr beim Weggehen noch gesagt, sie sollte zu ihm kommen, wenn sie etwas brauchten, sinkt sie auf die Knie und dankt Gott, daß sie dem Grafen nicht gefolgt. Dieser soll nie von ihrer Armut erfahren. Gestärkt von dem Gebet, kann sie zum erstenmal seit ihrer Krankheit, ohne sich anzuhalten, gehen. Dem Vater sagt sie es um seines Seelenheils willen, daß er sterben müsse, und liest ihm aus einem Gebetbuche die Sterbegebete vor, wofür er ihr mit tiefbewegten Blicken dankt, sie umarmt und mit ihr weint. Als er eingeschlummert, mag keines der Geschwister dem andern sagen, was ihnen bevorsteht, bis ihre weinenden Augen sich begegnen, sie sich umarmen und geloben, miteinander und der Mutter in Freud' und Leid immer treu zusammenzuhalten.[79]

Nach diesem feierlichen Auftritt wurde es uns leichter. Mein Karl sagte: »Ach, liebe Karoline, was bin ich hungrig! Ich habe heute noch keinen Bissen gegessen. Hast du gegessen?« »Nein, Karl. Es ist kein Bissen Brot im Hause. Mama gab ich die letzte Suppe von gestern, und was sie nicht aufgegessen, ließ ich für sie stehen auf die Nacht.« Nun suchten wir der Mutter ihren Beutel, ihre Röcke durch – fanden keinen Heller. Wir durchsuchten des Vaters Beinkleider und Westentaschen. Ha! Wenn wir mit einem einzigen Dreier des Vaters Leben, der Mutter Genesung, hätten dafür erkaufen können, wir hätten ihn nicht gehabt! Mein Bruder sah mich traurig an: »Ach, ich habe nichts, wollte es gern verkaufen.« »Warte, Karl, wird ja noch was von mir da sein.« Ich machte ein schwarzlackiertes, blechernes Kästchen auf, wo ich immer Perlen liegen hatte. Fand noch welche, reihte solche auf wie ein Halsband, heftete es auf weißes Papier, nahm dergleichen Ohrringe, in Silber gefaßt, und gab es Karl zum Verkaufen. Dieses Kästchen, das ich noch habe und mir für keinen Preis feil ist, nannte ich nachher in glücklicheren Zeiten »Mein Kästchen für Stolz und Uebermut.« – Mein Bruder kam bald wieder, es war bereits 9 Uhr abends, mit einem schwarzen Brot, etwas Käse und einem Krug Bier. Die erste Mahlzeit, die wir beide allein taten.

Am andern Morgen machen sich Zeichen bemerkbar, daß es mit dem Vater zu Ende geht. Als Karl geweckt wird und das Schreckliche hört, schreit er laut auf.

Wir lagen zusammen auf den Knien vor des Vaters Bett, und Karl betete aus Papas Gebetbuch. Meine Mutter wurde wach und rief uns zu, was wir vor Lärm machten. »Ach, liebe Mama, Papa ist sehr krank – ja, dem Tode nah, wird bald sterben.« »Papa?! Ich glaube, ihr seid toll! Wie kann ein Mensch sterben, der nicht krank ist?« Sie fing an zu lachen. Ach, es war schrecklich. Wir baten sie, um Gottes willen ruhig zu sein. Sie sah uns weinen; nun starrte sie uns an – wild an. Wollte auch weinen, aber es war kein Weinen, sondern ein wildes Heulen. Darauf wurde sie still, sah sich im Zimmer um und machte Bewegung, aufzustehen. Wir baten sie, ruhig zu sein. »Ja, ruhig – ruhig – aber ich[80] will, ich muß aufstehen, muß Papa sehen.« All unser Bitten war umsonst, sie wollte ihn sehen. Wir wickelten sie in des Vaters Schlafrock und halfen ihr aus dem Bett. Sie hielt sich an Karl und mir fest, und so leiteten wir sie an des Vaters Bett. Lange blieb sie stehen und sah ihn an. Endlich bückte sie sich zu ihm hin und rief: »Papa! Papa! – Schulze – Schulze – Papa!« Sie schüttelte den Kopf, wandte sich zu uns und sagte: »Gewiß, er muß recht krank sein, da er mir nicht antwortet. Das tut er nie. Hat mir immer geantwortet, wenn ich mit ihm sprach. Ach! Ach!« Sie holte tief Atem und lehnte ihren Kopf auf meinen Bruder. Wir baten sie, sich wieder niederzulegen. »Nein, laßt mich da ans Fenster hinsetzen!« All unser Bitten war umsonst. Wir machten ihr also einen Lehnstuhl mit einigen Polstern zurecht und leiteten sie auf solchen.

Der Tag war sehr stürmisch, und es regnete stark. Als sie einige Zeit mit gen Himmel aufgehobenen Augen und gefalteten Händen stille gesessen hatte, erhob sie ihre Stimme und fing ein Gespräch gegen Gott an (Karl lag mit seinem Gesicht an des Vaters Haupt gelehnt und betete, und ich kniete zu den Füßen des Bettes und betete, vermischt mit Tränen, still meinem Bruder nach): »Herr, sieh' meine Kinder, da, ihren Vater in Todesnot, mich hier! – Du bist Gott! – Willst es! Bin ich, mein Mann, sind meine Kinder schuld an all dem Elend? – Nein! Nein! Wir haben nichts verbrochen – sind nicht schuld. – Du willst es aber; ich murre nicht; unterwerfe mich. – Hilf, Helfer, hilf aus Angst und Not, Erbarm' dich mein, du großer Gott! – – Kinder, lebt der Vater? Ist es er, der so röchelt? Kommt, betet: Jesum will ich nicht mehr lassen, sondern tief ins Herze fassen. – Ja, ja, Gott! Glaubst du, daß du mich zaghaft machst? Nein, nein! Weg, Teufel! Weg von hier, du hast kein Teil an mir. Wie würdest du dich freuen, wenn ich gegen Gott murrte. Nein, tu es nicht. – Aber, Gott, nicht wahr, du hilfst mir wieder? Wirst helfen. Gott weint im Regen. Gott weint. Ich kann nicht weinen. Wollte gern; kann es nicht. – – Ja, nun will ich beten zu deinen fünf Wunden. Da, da fand ich immer Erhörung. Also zu deinen fünf Wunden, fünf Vaterunser,[81] fünf Ave Maria!: Vater unser, der du bist« – usw.; sie betete immer stiller und stiller, legte ihre gefalteten Hände auf das Fenster, sank mit ihrem Kopf darauf.

Das Röcheln meines Vaters wurde schwächer; es verlor sich endlich ganz. Zuckte mit der rechten Hand, hob mit einmal den ganzen Arm hoch in die Höhe, ließ solchen sinken – und war tot! Die Uhr schlug elf. Es herrschte um uns eine große, feierliche Stille. Kein Laut, keine Träne unterbrach sie. Karl lag mit seinem Gesicht auf des Vaters Haupt, ich auf seiner Hand, die ich ergriffen, meine Mutter starrte uns an. – Wild sprang ich auf von der Erde. »Drücke seine Augen zu! Ich muß fort.« »Wohin?« »Zu dem Mann, der sagte: ›Wenn ihr was braucht, kommt zu mir!‹« »Du bist ja noch nicht mit ausgewesen. Wer ist's?« »Der Barbier! Ich werde ihn schon finden. Hast mir ja gesagt, wo er wohnte.« »Ach, Karoline, bleib' –« »Nein, ich muß, muß in die Luft.« Und so stürzte ich die Treppe hinunter, rannte mit fliegenden Haaren, halb angekleidet, über die Straße, kam glücklich nach dem vorlängst mir bezeichneten Hause des Barbiers, riß sein Zimmer auf, wollte reden, sank aber sinnlos zu Boden.

Man bringt sie wieder zu sich und begleitet sie, nachdem man ihr einen Mantel und eine Haube gegeben, wieder zu den Ihrigen, die sich um das heftige Mädchen schon sehr gesorgt. Eine Leichenbittersfrau wird besorgt. Die Mutter ist infolge des Schreckes wieder in den Besitz ihres klaren Verstandes gekommen und redet nicht mehr verworren. Vor der Leiche nimmt sie ihren Kindern das Versprechen ab, sie nicht, wie das in ihrem traurigen Stande oft geschehe, im Stich zu lassen. Der Tote wird in ein anderes Zimmer gebracht.

Meine Mutter sowohl wie uns schauderte nun vor unserer Wohnung, in der wir nichts als Elend erlebt. Ohne die Gefahr zu bedenken, worein wir unsere Mutter setzten, kleideten wir sie an, nahmen sie, ein jedes von uns beiden unter einen Arm und führten sie nach des Barbiers Haus. »Mein Gott!« schrie uns der Barbier entgegen. »Kinder, was macht ihr! In dem Wetter die kranke Frau aus dem Haus zu führen!« »Ach, nehmen Sie uns auf! Nur ein Kämmerchen geben Sie uns und ein Bett, sonst nichts! Kein[82] Essen, wir wollen Ihnen gar keine Last verursachen. Aber in unserm Haus können wir es nicht mehr aushalten.« »In Gottes Namen, kommt her! Aber so viele Betten habe ich nicht. Doch soll euch meine Frau eine gute Streu oben in dem kleinen Verschlag, der in meiner großen Stube ist, an der Erde machen. In der Stube könnt ihr bleiben, so lange ihr wollt. Sind sie doch weg, die Offiziers, für die ich sie einräumen mußte. Will euch lieber haben. Gott gebe, daß sie nicht wiederkommen, so wär's Friede. Aber, Kinder, wenn nun durch eure Unvorsichtigkeit die Mutter auch stürbe! Das hättet ihr doch zu verantworten!« »O nein, Mama wird nicht sterben. Das kann Gott nicht tun, daß er uns auch die Mutter nähme. Nein, Gott ist gut, kann uns nicht auch zu mutterlosen Waisen machen.« »Gott stärke euch in dem Glauben, liebe Kinder!« Er wischte sich Tränen aus den Augen, auch seine Frau. Selbst seine Gesellen und die Magd standen traurig da. Es war eine lange Pause.

Endlich, da sich der redliche Mann wieder faßte, sagte er: »Wollt ihr was essen?« Wir schwiegen still und sahen uns an. Denn uns war bange, dem redlichen Manne nicht lästig zu werden. Endlich baten wir ihn, nur der Mama, die noch nichts gegessen hatte, ein wenig Suppe zu geben. Wir verlangten nichts. Auch müßten wir wieder nach Hause gehen, wollten aber bald wiederkommen.

Nun gingen wir in unsere schauervolle Wohnung. Wie leer, wie einsam! Wir suchten nun unsers Vaters Kleider, Wäsche, Schuhe, Strümpfe, Perücken, Schnallen, kurz alles, was sein war, zusammen, daß es mein Bruder verkaufen sollte, damit wir Geld zum Begräbnis bekämen. Nachdem wir damit fertig waren, setzten wir uns nieder und aßen von dem Brot und Käse, das wir noch hatten. Ich nahm den übrig gebliebenen Rest, wickelte solchen in unser Nachtzeug und trug's nach des Barbiers Haus, und Karl trug die Sachen zum Verkauf.

Erst spät kam er zu uns, brachte das wenige Geld und sagte: »Ach Gott, wenn man in Not ist. Wie bin ich froh, daß ich's nur noch los geworden!« Wieviel er gebracht aus allem, weiß ich nicht mehr. Nur so viel: für ein Hemd mit[83] gestickten Manschetten, wo jede Elle von der Leinwand einen halben Taler gekostet, bekam er einen Taler, und für eins mit battistnen Manschetten einen Gulden.

Nachdem sie sich nochmals geweigert, Speise von dem Barbier anzunehmen, werden sie mit viel Freundlichkeit zu ihrem Schlafraum geleitet.

Der Verschlag war eben so breit und lang, daß drei Menschen bequem nebeneinander liegen konnten. Wir alle drei hatten uns nur halb entkleidet, und so lag Karl an der Wand, die Mutter in der Mitte und ich an der Tür, die ich zugemacht hatte. Das Zimmer hatten wir nicht verschlossen. Wir schliefen bald ein und ruhten so sanft. Es mochte eben 5 Uhr geschlagen haben, als ich wach wurde. Ich setzte mich aufrecht, freute mich, daß die Mutter nebst Karln noch so fest schliefen, dachte meinem Schicksal nach. Meine Tränen strömten mir über die magern, blassen Wangen. Könnte ich die Empfindungen beschreiben! So viel Elend! Keinen Ausweg – nicht zu wissen, wohin! Nicht wissen, wo Brot hernehmen! Und doch fühlte ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit.

Sie freut sich aufs neue, den Tod des Vaters nicht durch eine Flucht mit dem Grafen verursacht zu haben, der von ihrem Elend nichts wissen dürfe, auch wenn sie betteln gehen müßte.

Die Uhr hatte eben sechs geschlagen, als ich ganz sachte unser Zimmer aufmachen hörte und sich jemand dem Verschlag näherte, wo leise angeklopft wurde. Ohne zu antworten, damit die Mutter und Karl nicht wach werden sollten, öffnete ich die Tür. Mad. Arnold stand da und hatte einen Brief in der Hand. »Eben brachte man diesen Brief. Er ist an den seligen Papa gerichtet. Da haben Sie ihn!« Ich dankte, und sie ging weg. Hand und Siegel waren mir fremd; denn die, mit denen mein Vater korrespondierte, kannte ich. Nach langem Besinnen, ob ich solchen erbrechen dürfte, ob ich die Mutter wecken sollte, endlich entschloß ich mich, solchen vorher zu lesen, um, wenn's kein guter wäre, Mama nicht zu erschrecken. Wie groß war mein Erstaunen, als ich den Brief erbrach und darin einen Wechsel von 30 Talern fand! Derselbe war von Herrn Doebbelin, der Direktor von einer Gesellschaft in Erfurt war und uns engagierte, zu ihm zu[84] kommen, nebst 12 Gulden wöchentlichem Gehalt. Der Wechsel war das Reisegeld. Mein seliger Vater hatte, was mir gänzlich entfallen war, an solchen geschrieben zu der Zeit, als meine Mutter bettlägerig geworden, und dieser Brief war die gewünschte Antwort darauf.

Lange glaubte ich, daß es ein Traum sei. Ich war, ich weiß nicht, wie. Freude fühlte ich, doch auch nicht ganz. O warum? Warum kamst du nicht zwei Tage früher? Warum konnte mein Vater nicht den Trost mit sich ins Grab nehmen, sanfter würde er gestorben sein. Doch er ist bei Gott. Da muß er's wissen. Ach, er könnte ja sonst nicht heilig sein. Er weiß es, hat es eher gewußt, wie du. So schwärmte ich in meinem Sinn.

Sie weckt nun zuerst Karl, der in seiner schlaftrunkenen Ueberraschtheit komisch aussieht. Er ist bereit, zur Einlösung des Wechsels wieder nach Dresden zu gehen. Die Mutter sträubt sich gegen ein Erwachen, und ist bei ihrer Schwäche und weil sie von dem Brief ihres Mannes nichts gewußt, ganz betäubt von der Freudenbotschaft. Die Geschwister nehmen dann nochmals Abschied von der Leiche ihres Vaters und trennen sich an dem nach Dresden führenden Tore unter gegenseitigen Ermahnungen.

Die Zeit bis morgen abend dünkte mich ein Jahr zu sein, so traurig war ich. Ich kam nach Hause, pflegte meine Mutter, und sie schlief viel, welches uns denn allen lieb war. Des Abends meldete man mir, daß der Sarg nach meiner alten Wohnung gebracht würde. Ich eilte hin, zahlte solchen, auch die Frau, die alles besorgt hatte, und das so sparsam, wie sie nur gekonnt. Ich dankte ihr, und nun wurde beschlossen, daß mein Vater den Sonntag des Morgens um 5 Uhr sollte nach seiner Ruhestätte gebracht werden. Die Nacht war für mich sehr unruhig, ich konnte keine Minute Schlaf gewinnen. Ich wünschte, daß meine Mutter schlafen mochte, bis ich wieder von dem letzten schmerzlichen Dienst, den ich meinem Vater leistete, zu Hause sei. Doch ich betrog mich. Schon vor 4 Uhr des Morgens wurde sie wach. »Ach, Mädchen, wie siehst du aus! Ich bitte dich um Gottes willen, weine nur nicht! Ja, wenn ich auch weinen könnte, so wär's mir wohl.« Denn noch hatte diese arme Frau keine Träne vergossen. Und das machte dem guten Barbier und[85] seiner Frau viel Sorge. »Sie muß schrecklich leiden,« sagte sie. »Besser wär's, wenn sie weinen könnte. Noch liegt's an ihrer Krankheit. Noch haben wir zu fürchten.«

Als die Leichenbitterfrau kam, mich abzuholen, blieb des Barbiers Frau bei meiner Mutter und sagte mir, ich sollte nur ihretwegen ruhig sein, sie würden alle mögliche Sorgfalt für sie haben. – Ich hatte zwar kein Trauerkleid an. Aber innerliche Trauer hatte wohl nie ein Kind mehr getragen wie ich. Ein weißes Nachthäubchen von Leinwand, wie man's damals in Dresden trug, unter dem Hals mit einem schwarzen Bändchen zugebunden, war mein Kopftuch. Ein Jäckchen, weiß, mit dunkelvioletten Blumen, Kontusch, darunter ein weißes Marselge genähtes Westchen mit schwarzem Band geschnürt, weißer, kanaraffner Rock und Schleierschürze. Das war mein Anzug. Die Frau war ganz schwarz gekleidet und führte mich bei der Hand. Denn ich wankte hin und her. Stumm und sprachlos sah ich die sechs Träger in ihren schwarzen Mänteln an, die bereits uns erwarteten. Ich ging die Treppe hinauf; die sechs Männer nebst den Wirtsleuten folgten uns. Sowie sie mit mir ins immer traten, schrien sie zusammen einmütig: »Mein Gott, welch eine schöne Leiche, so sahen wir noch keine!«

Lächelnd liegt der Tote, als wenn er schliefe. Die Wangen sind rosig, wie geschminkt. Karoline wirft sich über den Sarg und ist nur mit Mühe davon loszureißen. Sie faltet dem Vater die Hände und gibt ihm ein Bild des Gekreuzigten mit der schmerzensreichen Mutter mit, das er um des herrlichen Ausdruckes darin besonders liebte. Draußen auf dem Kirchhof läßt sie sich den Sarg noch einmal öffnen. Die erste Erde auf den hinabgesenkten Sarg zu werfen, tut ihr bitter weh.

Die Träger und Frau gingen fort, und ich blieb allein bei dem Totengräber, bis er das Grab ganz fertig hatte. Er rauchte seine Pfeife Tabak dabei, und ich dachte bei mir: Mein Gott, Gewohnheit muß viel tun; der Mann fühlt doch nichts. Als er fertig war, bat ich ihn, ob er nicht den Kirchhof noch wolle offen lassen. Ich wollte noch dableiben. »Gern, Mamsellchen! Muß Papa recht lieb gehabt haben. Solange ist mir noch keine dageblieben.« Er ging, und ich sammelte an der Mauer Blümchen und warf solche auf sein Grab, wollte keinem[86] Toten seine Blumen rauben. Darum pflückte ich die an Weg und Mauer. Sein Grab ist zwischen zwei Bäumen; sehr genau merkte ich mir die Stelle. Ach, ich würde sie zu jeder Zeit wiederfinden. Einsam warf ich mich von einem Grab auf das andere, ob sich denn keins öffnen und mich aufnehmen wollte. Doch die Mutter – ach, ich muß leben.

Endlich wird die durch das Erscheinen Fremder vertrieben. Nach zehn Uhr kommt sie nach Hause. Gegen Abend wagt die Mutter mit ihr einen ersten Ausgang.

Wir gingen langsam zum Tor hinaus zum Kirchhof. Doch er war geschlossen. Durch die eiserne Gittertür wies ich ihr des Vaters Grab. Sie kniete mit mir nieder, und wir beteten. – »Nun, liebe Mama, wollen wir in den Wald gehen, vielleicht kommt Karl bald.« Auch waren wir in unserer Hoffnung nicht betrogen. Kaum als wir eine Viertelstunde hineingegangen waren, kam er uns mit Herrn Mirk entgegen, der mit uns bei H. Doebbelin engagiert worden und die Vorsicht brauchte, Karl zu begleiten, weil er das Geld bei sich hatte.

Der Büttel, bei dem die Sachen eingelöst werden müssen, sowie der Arzt und der Barbier, zeigen sich sehr edelmütig und liebevoll. Am 14. reist man ab. Obgleich in Leipzig der Bruder erkrankt, wird die Reise nach Erfurt fortgesetzt, wo man am 22. eintrifft. Dort stellt sich heraus, daß Karl das hitzige Fieber und den roten Friesel nun auch bekommen hat.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 75-87.
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