Luzern – Bern.

[112] Von Zurzach reisten wir nach Luzern. Ort und Lage ist gut, aber erbärmliche Wirtshäuser waren damals dort. Wir lebten fast alle von Brot, Kastanien, Obst und Kaffee; denn die Kost war nicht zu genießen. Wir hatten besonders das Unglück, in ein Haus zu kommen, wo die ganze Wirtschaft wohl die einzige in ihrer Art war. Buchholz hieß der geplagte Mann, war seiner Profession ein Posamentierer. Zwei Gesellen, eine Magd nebst 5 kleinen, unerzogenen Kindern war die Haushaltung. Seine Frau, die schwanger war, war nach Maria-Einsiedeln wallfahren gegangen, und die Messe war in Luzern. Beten ist recht, doch glaube ich, daß sie ebensowohl vor oder nach der Messe, als in der Messe, wo die Leute die meiste Nahrung haben, hätte können wallfahrten gehen. Doch, war die Wirtschaft toll, wie sie weg war, so ward solche bei ihrer Anwesenheit noch toller. Nur ein Stückchen davon will ich erzählen. Als die Messe ganz vorbei war, schlachtete sie zwei Schweine. Der Schlächter hatte selbst alles Gerät, das[112] man dazu brauchte, mitgebracht und wusch Tische und Bänke selbst. Als die Würste fertig waren, standen solche in einer Molde in der Stube. Die fünf Kinder machten sich über solche her, drückten das Fleisch aus den Würsten, banden die Därme an Stöckchen und machten sich Peitschen davon, wo sie sich herumjagten. Meine Mutter sah den Spektakel und rief die Wirtin. »Ach, die gottlosen Kinder! Hat man nicht seine Not?« Band die Därme los und füllte wieder das Fleisch hinein, ja, war selbst Schwein genug, uns von denselben Würsten am Mittag zu schicken. Daß Teller und Würste von mir die Treppe hinuntergeworfen worden, kann man sich leicht denken. Und dergleichen Stückchen geschahen täglich. Wer speiste sich dann nicht gern in Obst und Brot und gekochten und gebratenen Kastanien satt?

Endlich reisten wir von da weg und wieder nach Bern. Mir gefiel's nun besser da, und natürlich, ich bekam mehr Bekanntschaft. Besonders war ich in einen Zirkel von jungen Demoiselles gekommen. Schon um 1 Uhr des Sonntags nachmittags fing man an, sich zu versammeln. Eine holte dann die andere ab in das Haus, wo nun die Jungfer von ihren Eltern die Erlaubnis hatte, ihre jungen Freundinnen zu bewirten. Man stelle sich das Vergnügen vor! Zwanzig und oft mehr junge Geschöpfe versammelt zu sehen, wo keine von uns noch 18 Jahre zählte. Tee, Kaffee, Obst, Konfekt, Backwerk wird gereicht – kein Wein. Alle möglichen Spiele, Karten, Würfel, Damenbrett usw., man darf nur wählen. Aber alles ohne Geld wird gespielt. Man wechselt nun ab, erzählt Geschichten, Fabeln, gibt Rätsel auf; man tanzt, man spielt um Pfänder, und so lacht und scherzt man fort bis 8 Uhr, wo dann die Dienstmädchen mit der Laterne in der Hand ihre Jungfern nach Hause bringen. Weder Vater, noch Mutter sieht man. Und wenn so eine Jungfer (denn das ist der einige Titel) einen Bruder von fünf Jahren hat, so dürfte er's nicht wagen, zu seiner Schwester ins Zimmer zu treten. Ich war Zeuge, wie ein Knabe von sieben Jahren ganz entsetzlich durchgeschlagen wurde, der es gewagt hatte, zum dritten Male aus Kinderei zu uns von dem Gang durchs Fenster in die Stube zu sehen. So lange ein Mädchen noch nicht zwanzig Jahre[113] zählt (sie müßten denn vor ihrem zwanzigsten sein verehelicht worden), kommt keine in Gesellschaft von verheirateten Leuten. Vom Tisch speisen sie mit; aber da wird auch kein Wort gesprochen, worüber ein junges Mädchen erröten müßte. Und meine Leser glauben mir, man ist doch fröhlich. Wollte doch Gott, daß es in Bern noch so ist! So wäre doch ein Land, wo noch allgemein gute Sitte ist.

Ein Kind von sieben Jahren bat mich und noch zehn aus dem Zirkel dazu. Wahrlich, wie uns das Kind aufgenommen, mit welchem Anstand es uns dankte, wenn wir ihm im Herumreichen behilflich waren! Manche könnte in unserm Zeitalter von dem was gelernt haben. Von Artigkeit. Was sind jetzt Kinder? Mademoiselles und Messieurs. Und wenn sie Mädchen und Jünglinge sein sollen, sind sie Männer und Frauen, und statt Männer und Frauen Greise und Matronen.

Nein, sich so zu freuen, wie man sonst konnte, kann man gar nicht mehr. Freilich sind jetzt alle Kinder klüger als sonst. Wehe der Klugheit! Nehmt den Mädchen ihre Unschuld, was bleibt noch? Man verstehe mich recht, verstehe nicht unter der Unschuld, daß man sie zur H... mache. Nein, Unschuld im Denken, Betragen und Handeln. Vor 30 Jahren haben sich die Männer nicht so fürs Heiraten gefürchtet, wie jetzt. Und wer kann's den Männern verdenken? Wer ist schuld? Jetzige Mode und Sitten. Doch ich werde unsere Welt nicht bekehren, wäre eine sehr verlorene Arbeit. Können's Gelehrte nicht, was wollte ich? – Dieses Mal in Bern hatte ich auch das Glück, Wieland kennen zu lernen.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 112-114.
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