Hannover.

[172] Im Oktober reisten wir also nach Hannover.

Unterwegs fällt der Wagen, in dem Karoline mit ihrer Mutter und Frau Ackermann mit ihren Kindern sitzen, um. Die Mutter stößt sich dabei sehr unglücklich. Die Gage wird durch Zulage von zwei Gulden auf vierzehn Gulden erhöht.

Wir spielten in Hannover mit vielem Beifall und Glück; alles ging gut. Ich war munter und fröhlich und hüpfte so in Lachen und Scherzen meine Tage durch. Der Briefwechsel mit meiner Fleischer, ihrer Schwägerin und Fredersdorf wurde nun ununterbrochen fortgesetzt, und wenn ich nicht am Tage zu schreiben die Zeit hatte, nahm ich die Nächte zu Hilfe. Ich war einige Wochen da, als mir Fredersdorf ohne Vorwissen meiner Freundin geschrieben hatte. In den zärtlichsten Ausdrücken gestand er mir seine aufrichtigste Liebe. Nie hätte er es gewagt, sich in Braunschweig gegen mich zu offenbaren, ungewiß, ob es vielleicht nur für ihn eine vorübergehende Empfindung wäre. Aber meine Entfernung hätte ihn überzeugt, ihn sein ganzes Herz kennen gelehrt. Nur auf mich käme es an, ob ich sein Herz annehmen wollte und könnte. Auch zweifelte er nicht, die Bewilligung des Durchl. Herzogs zu erhalten, da der Herzog so viele Gnade für mich hätte und auch er sich rühmen könnte, die Gewogenheit des Herrn zu haben. – Fredersdorf war ein schöner Mann, männlich schön, 27 Jahre alt, besaß in seinem Betragen, in seiner Art, zu sprechen, zu handeln, so viel Liebenswürdiges und Edles, daß ich ihn gewiß geliebt haben würde, wenn ich ihn eher als den Major gekannt hätte. Und wie glücklich wäre ich gewesen! Fredersdorf besaß meine ganze[172] Freundschaft, die vollkommenste Hochachtung. Aber lieben, lieben konnte ich ihn nicht.

Aufrichtig, ohne Verstellung, schrieb ich ihm solches. Und wenn ich auch durch mein Geständnis seine Freundschaft, die mir so schätzbar geworden, verlieren sollte, so wollte ich sie lieber verlieren, als ihn betrügen oder ihm eine Empfindung vorlügen, die ich nicht hatte. Wollte er mehr wissen, so sollte er mein anderes Ich, mein Riekchen, fragen, nur mich verschonen, es ihm selbst zu sagen oder zu schreiben. Bald erhielt ich von ihm wieder Antwort. »Liebe Karoline! Ewig werde ich Sie lieben, muß ich Sie lieben, aber Sie werden es nie wieder von mir hören. Ihr Freund bleibe ich und bitte um die Fortsetzung Ihrer Freundschaft, der Sie mich gewürdigt. Die Zeit wird's Ihnen lehren, daß ich solcher nicht unwürdig war, noch bin« usw. Nun kamen seine Briefe wieder mit denen von Riekchen und ihrer Schwägerin, und der Ton der zärtlichsten Freundschaft herrschte nicht allein in unsern Briefen, sondern sie erfüllte ganz unsere Seelen. Sie erfuhren alles, was mir begegnete, auch das Unbedeutendste, und so lebte ich auch abwesend ganz bei ihnen, wie sie bei mir.

Nicht lange war ich in Hannover, als ich in zween Häusern Bekanntschaft erhielt. Die eine war in des Königl. Leibchirurgus Bothe Haus, und die andere bei einer Pastorswitwe Deterding, wo mein Bruder ihren Sohn, der Postsekretär war, und die Nichte, Mademoiselle Deterding, im Tanzen informierte. Die erste Bekanntschaft kam auf eine drollige Art. Ich kam von der Tanzprobe, gegen Mittag, lachend und springend; denn sachte wie andere Menschen konnte ich gar nicht auf der Straße gehen. Ueber jeden Rinnstein mußte ich hinüberspringen, schreiten konnte ich nicht, und das war mir nun einmal zur anderen Natur geworden. Ich weiß wenige Frauenzimmer, die gern mit mir spazieren gegangen wären; denn immer hieß es, ich liefe, und wenn ich auch noch so ordentlich, nach meiner Meinung, zu gehen glaubte. Wie ich also so hergesprungen kam, sah ich von ferne einen sehr alten Mann an dem einen Bach stehen, wie bekanntlich durch Hannover fast in allen Straßen Wasser[173] fließt. Ich sah den Alten, der zwar sehr reinlich und ordentlich gekleidet war, doch – ich weiß selbst nicht, durch welche Idee – für einen Hausarmen an, und daß er wohl vor hohem Alter nicht über den sehr stark angelaufenen Bach schreiten könnte. Geschwinde griff ich nach meinem Beutel, nahm einen halben Taler heraus, will den Alten über den Bach leiten und ihm das Geld heimlich in die Hand drücken. Schon standen mir mitleidige Tränen in den Augen. Ich ging auf ihn zu, wollte die Hand ausstrecken und sagen: »Komm, lieber alter Vater,« als er mit eins meine Hand fest packte und zu mir sagte: »Weiß Sie wohl, daß ich Sie recht lieb habe?« »Ja, Herr!« schrie ich, riß mich los, sprang über den Bach und lief, was ich laufen konnte, nach Hause. Ich dachte, der Alte säße mir auf dem Rücken. Ganz atemlos kam ich nach Hause. »Mein Gott,« sagte meine Mutter, »wie bist du einmal wieder gelaufen!« Ich erzählte, was mir begegnet, und daß der Alte müßte närrisch sein. Ich dachte, er hätte mich schon bei dem Kopf.

Ich erzählte es den Abend auf dem Theater. Sie lachten alle gewaltig; aber besonders H. Ackermann fing an und sagte: »Ich wette, das war der alte H. Bothe, der Leibchirurgus.« Ich beschrieb ihn. »Ja, ja, er ist's, und, Mädchen, dem wolltest du Almosen geben?« Der Mann mit seiner Familie ist einer meiner besten Kunden, alle Abend auf dem ersten Platz, und immer mit 10, 11 Personen. – Das machte ebenso viel Gulden. – Nun schämte ich mich, daß ich einmal wieder einen albernen Streich gemacht hatte. Aber der Alte hatte mich gar zu sehr erschreckt. Etliche Tage darauf war Herr Bothe in der Billardstube; denn wir spielten im Ballhaus. Sowie ich in den Hof trat, kam der Alte aus der Stube gewackelt und auf mich zu. Nun blieb ich stehen und machte ihm mein Dienerchen. »Neulich wollte Sie mir nicht stehen bleiben. Was, Henker, ist Sie so vor mir gelaufen? Muß es Ihr nur noch einmal sagen, daß ich Sie recht herzlich lieb habe. Aber das verfluchte Springen laß Sie mir mit samt Ihrem Bruder! Kinder, ihr tut euch gewiß noch alle beide Schaden. Und was habt ihr dann davon? Wie ich vor 50 Jahren in Frankreich war und Italien, seht, da hat[174] man so getanzt tal tal tatla talta triridum – «, und sang die Fol d'Espagne, und hob den einen Fuß und die beiden Arme dazu. Nun hätte ich gleich den Mann küssen können, so lieb war er mir. »Sie muß mich besuchen, hab' große Töchter, sind mir schon über den Kopf gewachsen, aber wir haben Sie alle lieb, herzlich lieb. Nun, auf den Sonntag nachmittag sehe ich Sie in meinem Haus.«

83 Jahre war dieser liebenswürdige Greis alt. Auch da lernte ich die Anmerkung machen, daß das Alter oder alte Leute immer selbst schuld sind, wenn die Jungen sich ihrer Gesellschaft entziehen. Wenn der Alte nur nicht vergißt, daß er auch ehemals jung gewesen, nicht mürrisch, nicht verdrießlich ist und mit teil an fröhlichem Scherz nimmt! – Keinen Sonntag habe ich in Hannover verlebt, wo ich nicht bei meinen lieben Bothes war. Er hatte zwei Töchter und einen Sohn. Der Sohn war Hofadvokat. Es schien, als ob die ganze Natur sich verschworen hätte gegen ihn, eine häßliche Gestalt hervorzubringen. Aber so ungestalt er war von Kopf bis auf den Fuß, so war er der Mann von dem besten Herzen, den rechtschaffensten Grundsätzen, voll Verstand. Wenn Gesellschaft auch zuweilen von jungen, liebenswürdig gestalteten Herrchen da war, so waren wenige Worte, die der junge Bothe sprach, mir lieber, als all den süßen Herrchen ihr Geschwätz. Zum Glück, daß solche Gesellschaft nicht oft da war. Die gewöhnliche waren lauter alte Freunde von dem Hause: Knaben von 70, 60, 50 und in den vierziger Jahren. Auch seine Töchter hatten ihre Jahre und hätten meine Mütter sein können. Und in diesem Zirkel saß ich mit meinen 18 Jährchen mitten darunter, freuten uns und lachten und waren oft so lustig, daß die Nachbarn in den Fenstern lagen und die Leute auf der Straße stillstanden. Und niemand wurde beleidigt, noch weder im Witz oder Scherz den Nebenmenschen Ehre und Redlichkeit abgeschnitten, noch durch zweideutige, häßliche Zoten Gott und die Menschheit beleidigt. Ich lebte das herrlichste Leben; in Unschuld und Freude verschwanden die Tage meines Daseins. Freilich hatten wir auch ernsthafte Stunden und Gespräche; denn ein immerwährendes Lachen kann so lästig werden wie beständiger[175] Ernst; so wie es sich schickte, wie das Gespräch sich lenkte. Ein für allemal hatte mir Gott die Gabe gegeben, lustig mit dem Lustigen und traurig mit dem Traurigen zu sein. Nie vergaß ich mich oder die Aufmerksamkeit, die ich jedem nach seinem Alter und seiner Würde schuldig war, und dadurch erwarb ich mir so viele Freunde. Unter denen kann ich auch ohnmöglich einen herrlichen Mann, ohne solchen zu nennen, übergehen. Es war der Hofsekretär Baring, einer meiner edelsten und besten Freunde, der mit in den sonntäglichen Zirkel gehörte, der in Bothes Hause war.

Einmal wurde von Gutem und Bösem geurteilt und darüber Anmerkungen gemacht. Der alte Bothe ward sehr ernsthaft und sagte: »Hab' nun 83 Jahre gelebt, bin meinem letzten Tage nicht fern mehr, erwarte mit jedem Morgen, mit jeder Nacht, daß es vielleicht die letzte ist. Will auch gerne vor meinem Gott erscheinen, wenn er will, wenn er mich abruft. Aber ich würde noch freudiger sterben, wenn ich mir nur nicht einer Handlung bewußt wär', die ich wünschte, nicht getan zu haben oder sie ungeschehen zu machen. Doch Gott ist barmherzig und wird mir vergeben.« Daß wir alle auf die eine Handlung neugierig waren, solche zu wissen, kann man leicht denken, und besonders ich. Ich leugne auch nicht meine kleine, unverschämte Dreistigkeit, denn was ich dachte, mußte ich auch sagen. »Was kann das gewesen sein, lieber Papa?« – denn so nannte ich ihn, und er mich sein kleines Englineschgen. »Will's sagen. Als ich noch bei der Armee stand und auch noch munter war, war's im Sommer um die Zeit der Heuernte. Ich war Regimentsfeldscher und wollte mit einigen meiner Kameraden, die unter mir standen, nach dem Lager reiten.« Wir trafen auf eine schöne Wiese, die die Bauern eben abmähten. »Ha, die Wiese ist schön!« sagte ich, »kommt, laßt uns hier unsere Pferde grasen!« Und so stiegen wir ab und führten unsere Pferde im Grase herum. Die Bauern baten mich, ich sollte doch mit den Pferden von der Wiese gehen, sie wollten uns abgemähtes Gras geben, so viel wir wollten. Die Zeit der Ernte wäre des Kriegs wegen ja ohnedies schlecht und des guten Heus wenig. Nur die einige Wiese war noch verschont geblieben. Ich lachte, schalt[176] und fluchte den Bauern und habe es nicht getan. Bothe schlug seine Augen in die Höhe, und Tränen standen in solchen. Ich wußte vor Angst nicht aus noch ein, und um ihm einst ein ruhiges Sterbestündchen zu machen, sagte ich: »Aber, lieber Papa, das war doch auch so was schrecklich Böses nicht.« »Englineschgen, Englineschgen, ei, ei, sage Sie das nicht! Nichts Böses? Viel, viel Böses! Die armen Bauern mich bitten zu lassen, und unbarmherzig zu sein! Wollten mir unentgeltlich Gras geben. Nahm's nicht, scheltete, lachte! Hätte Sie das sehen und billigen können?« »Nein, lieber Papa! Aber ich habe gehört, die Pferde fressen lieber das Gras ab, als wenn man es ihnen in Bunden hinreicht.« »Ja, das ist wahr; aber war nicht genug am Wege? Mußte ich auf die Wiese mit den Pferden? Was verdarb nicht alles der Krieg! Was war für Not!« Mir fiel die Reise nach Cassel ein, meine melancholische Bäuerin, und ich fing bitterlich an zu weinen. Wenn der, der der Armen ihr letztes Kind an der Wand zerschmetterte, einst seiner letzten Stunde nahe sein wird oder solcher schon nahe gewesen, welch entsetzliches Ende wird er nehmen oder genommen haben! Wem muß dieser 83 jährige Greis nicht verehrungswürdig gewesen sein? Jetzt sterben Junge und Greise mit weniger Skrupeln, die Menschen geräubert, geplündert und Witwen und Waisen, auch mitten im Frieden, zu Bettlern gemacht. Wer kann sich wundern, wenn Alte auf ihr Leben voll Laster zurückblicken, daß sie sich scheuen und murren und knurren, wenn die Jugend lacht, daß sie zu schwach geworden, lasterhaft noch sein zu können? O mein alter Bothe, heilig sei mir stets dein Andenken! Glücklich und gesegnet der Tag, da ich dich kennen lernte, du mich deiner Freundschaft, Achtung und Liebe würdig geschätzt. Solche Menschen ließ mich Gott finden. Dank, ewigen Dank, gütiger Gott!

Doch ich sollte in diesen heitern Zeiten nicht vergessen lernen, daß auch noch trübe Tage und Augenblicke für mich bestimmt wären. Meine gute Mutter wurde krank und bekam heftige Blutstürzungen, die mich nach und nach an den Gedanken gewöhnen sollten: du wirst auch sie bald verlieren. Keine Aufwartung, kein Geld, nichts wurde gespart, um ihr[177] teures Leben für uns zu erhalten. Auch erholte sie sich wieder, so daß sie wieder ausgehen konnte. Kurz vor dem Advent kam meinem Bruder aus seinen Beinkleidern, die er hingehängt, eine Steinschnalle weg. Die Garnitur hatte ihm 40 Taler gekostet. Wir suchten alle nach dem Ballett, aber die Schnalle war weg. Endlich setzte er ein gutes Trinkgeld darauf, wer sie ihm wiederschaffte, und solche wurde auf den andern Abend in einem Leuchter gefunden. Diese kleine Episode, die ich hier einstreue, fiel nachher für mich sehr wichtig aus. Der Advent kam, und es wurde nicht gespielt. Ich wurde, wie gewöhnlich, an einem Sonntag in der Nacht von Bothes Haus nach dem meinigen getragen. Als ich ankam, sagte meine Mutter zu mir: »Heute abend ist jemand Fremdes dagewesen und hat nach dir gefragt.« »Wer war's? Was wollte er?« »Ja, das weiß ich nicht. Er sagte, er müßte dich sprechen.« »Wenn's was Notwendiges ist, wird er schon wiederkommen. Inzwischen ist's sehr wunderlich von ihm, daß er's Ihnen nicht gesagt hat. Warum gerade nach mir? Das gefällt mir nicht. Der muß mich auch noch nicht kennen.« Acht Tage gingen hin, und ich war wieder bei Bothes. Wie gewöhnlich, da sie ja wußten, daß mir nichts Unangenehmes begegnen konnte, hatten sie mich niemals mit einem Bedienten nach Hause gehen lassen, sondern sie waren so gütig und bestellten immer eine Portechaise, die manche nur den verfluchten Kasten nannten. Doch der Kasten war mir bei den kalten und unangenehmen Wintertagen lieb. Wie ich zu meiner Mutter in die Stube trat, sagte sie zu mir: »Der Fremde war wieder da.« »Nun?« »Ja, ich glaube nicht, daß es ebenderselbe war wie vor acht Tagen. Oder vielleicht habe ich ihn das erstemal nicht recht gesehen, weil ich noch kein Licht brennen hatte. Heute abend aber kam er später. Er war ganz vermummt, hatte eine weiße Kapuze auf dem Kopf, vor dem Mund zugeknöpft, daß nur so ein bißchen die Nase heraussteckte und man kaum die Augen sah. Hatte einen Mantelrock an, doch sah ich weiße seidene Strümpfe. Dieser also beschriebene Herr, nachdem er einen guten Abend gesagt hatte, frug nach dir. ›Meine Tochter ist nicht zu Hause.‹ ›Das ist doch ärgerlich, daß sie nie zu Hause[178] ist.‹ ›Und warum soll sie nicht ausgehen?‹ ›Aber, wo ist sie denn?‹ ›Wo sie immer ist, bei H. Bothe. Was wollen Sie von ihr?‹ ›Ich habe ihr einen Brief zu geben, und das in ihre eigenen Hände.‹ ›Hören Sie, und nehmen Sie mir es nicht übel, wenn Sie einen Brief an meine Tochter haben, so können Sie solchen mir ebensogut geben wie ihr. Ich erbreche keine Briefe meiner Tochter; denn ich kenne mein Kind und weiß, daß sie mich alle ihre Briefe lesen läßt; sie hat vor mir keine Geheimnisse. Haben Sie also einen Brief an meine Tochter, den die Mutter nicht lesen soll und darf, so wird solcher auch der Tochter nicht anständig sein. Gehen Sie also in Gottes Namen mit Ihrem Brief dahin, wo Sie hergekommen sind!‹ Er schwieg still und sah mich an. Endlich sagte er: ›Madame, ich wollte Ihnen gern den Brief dalassen, aber so bin ich beordert. Inzwischen will ich fortgehen und das wiedersagen, was Sie mir gesagt. Ich komme also entweder bald wieder oder gar nicht.‹ ›Sehr wohl, mein Freund,‹ und so leuchtete ich ihm die Treppe hinunter. Nach einer kleinen halben Stunde kam er wieder: ›Nun da, Madame, hier ist er; aber nochmals wird gebeten, daß Mademoiselle solchen erbricht.‹ ›Daran dürfen Sie nicht zweifeln!‹ Er ging fort, und da hast du ihn.«

Wieder ein neuer Auftritt! »Lassen Sie doch sehen! Der Brief ist schwer, da ist ja was drinnen.« Ich fühlte und fühlte. »Ich wette, das sind Schnallen.« Dafür hielt ich's und Karl auch. Nun wurde das Siegel von meiner Hand erbrochen, und ich fand ein paar englische Steinschuhschnallen, in Silber gefaßt, mit folgenden Zeilen: »Mademoiselle, da ich neulich nach geendigter Komödie gehöret, daß dero Steinschnallen in der Suche gewesen und also vermutlich verloren gegangen, so nehme ich mir die Freiheit, Ihnen hierbei ein paar andere zu überreichen. Ich bitte, solche ohne Bedenken anzunehmen, da Sie niemals erfahren werden, woher oder von wem sie kommen. Es geschiehet dieses aus keiner anderen Ursache, als in Ansehung der großen Approbation, welche Sie sich bei dem hiesigen Publico erwerben auch wiederum etwas dazu beizutragen, daß dero hiesiger Aufenthalt Ihnen angenehm werden möge. Ich möchte aber[179] auch gerne gewiß sein, daß der Ueberbringer sie Ihnen auch ehrlich überliefert hat. Ich bitte also, wenn Sie das erstemal nach dem Feste wiederum vorstellen, dieses Zeichen des richtigen und Ihnen nicht unangenehmen Empfangs mir zu geben, daß Sie entweder in der Vorstellung oder im Ballett, wenn es Ihnen anders beliebig ist, das Schnupftuch gelegentlich fallen lassen. Ich bin ein Ihnen stets Unbekannter.

Hannover, den 11. Dez. 1763.«

»Ein paar Schnallen wegen so viele Umstände zu machen!« sagte ich. Doch freute ich mich auch gewiß recht sehr. Von wem solche etwa kommen mochten, gab ich mir keine Mühe, zu wissen. Wollte unbekannt sein? Gönnte solches ihm herzlich. Genug, es zeugte von einem edlen Betragen. Nur war ich noch gar nicht bei mir schlüssig, ob ich das Schnupftuch sollte fallen lassen oder nicht. Ohngeachtet niemand was davon wußte oder sonst merken konnte, so war ich doch zu delikat in meiner Denkungsart. Da ich also noch Zeit hatte, zu überlegen, schrieb ich den ganzen Vorfall nach Braunschweig an meine Freunde, und das, was sie mir rieten, wollte ich tun. Die meisten Stimmen sagten: Ja, ich sollte ein Schnupftuch fallen lassen.

In dem ersten Stück nach dem Feste hatte ich nur im Nachspiel und Ballett zu tun. Das Nachspiel war »Der geschwätzige Barbier« von Holberg. Ich spielte das Mädchen und warf ein Schnupftuch nieder, und indem ich's fallen ließ, warf ich eine große Flasche an eine steinerne Sauerbrunnenkruke, daß die Flasche in Stücke zerbrach. Da lachte ich denn aus vollem Herzen, aber Herr Ackermann fluchte und mußte für solche einen Gulden bezahlen. Alles geschah in einem Augenblick. Wenige Tage darauf erhielt ich eine Schachtel und bei derselben folgenden Brief: »Mademoiselle! Ein Ihnen Unbekannter, mir aber sehr vertrauter Freund, hat mir committiret, Ihnen zu melden, daß er das sich ausgebetene Zeichen durch Fallenlassen eines Schnupftuches den Tag nach dem Feste im Nachspiel ›Der geschwätzige Barbier‹ bei einer von Ihnen angenommenen Bouteille bemerkt habe, daß er über daraus geschlossene richtige Ablieferung sich sehr gefreut und er um so mehr danke, daß Sie die Kleinigkeit mit[180] diesem Zeichen beehren wollen, indem er den Tag mit einer großen Curiausität in die Komödie gegangen. Ich habe ihm zwar vorgeworfen, daß er eine kleine Torheit getan. Es gefällt mir aber die Art der Torheit so gut, daß ich eine ähnliche begehe und, um diesen Brief nicht zu trocken abzufassen, Ihnen vorerst 1 Paar rote, 1 Paar weiße Allongen und 3 Paar weiße Handschuhe in einer Schachtel durch die Hände dero Frau Mutter überreiche. Denn nicht alle Torheiten sind schlimm. Man bittet, solche Kleinigkeiten sich gefallen zu lassen; denn jener und ich haben niemals mit Ihnen gesprochen, sind auch niemals nach geendigter Komödie auf dem Theater gewesen, werden auch niemals hinauf kommen, sind weder Offiziere noch Hofleute, sondern solche, die wegen der Achtung, worinnen Sie stehen, etwas dazu beitragen wollen, daß es Ihnen hier gefallen möge, und Ihnen alles Gute wünschen. Wir bitten deshalb, auf niemanden von denen, die Sie auf dem Theater oder sonst etwa gesprochen haben, zu raten; denn Sie treffen gewiß nicht die rechten. Daß Sie aber über unsere Torheit lachen, das können wir zugeben; denn wir sind und bleiben dero stets Unbekannte.

Hannover, den 31. Dezember 1763.

Bitte, die Hand außer dero Frau Mutter nicht zu zeigen, sondern zu kassieren.«

Das tat ich denn auch, niemand bekam solche zu sehen. Wäre unartig und undankbar von mir gegen meine unbekannten Freunde und Wohltäter gewesen. Selten verging eine Woche, wo nicht auch eine Schachtel kam, immer zu der Zeit an meine Mutter adressiert, wenn ich im Theater war. Jede Schachtel war immer reicher und reicher angefüllt; der Inhalt der Billette immer derselbe: daß sie mich in Gesellschaft gesehen oder gesprochen. Nur in dem einzigen war ich dieser großmütigen Gesellschaft ungehorsam, daß ich die Briefe nicht verbrannt habe. Mit der Zeit, wußte ich, würde ich alles auftragen und aufbrauchen. Doch von den Billetten konnte ich mich nicht trennen. Die verwahrte ich, und sie werden, so lange ich lebe, nicht aus meinen Händen kommen.[181]

Noch dankt euch allen mein Herz, ihr großmütige Unbekannte und Freunde. Und wenn ihr mich auch nicht so reich, als wie ihr tatet, beschenkt hättet, so war die Art, wie ihr mir eure Achtung gegen mich bewieset, zu verehrungswürdig, als daß ein Herz wie das meinige nicht euren ganzen Wert, euer edles Bezeigen in seinem ganzen Umfang gefühlt haben sollte. – Nun war ich auch instand gesetzt, die drei neuen Kleider verfertigen zu lassen, wozu ich in Cassel durch den Major die Zeuge erhalten. Und wer weiß, wie lange solche ungemacht hätten liegen müssen, wenn ich nicht die lieben Briefe von unbekannter Gesellschaft bekommen hätte. Wie oft ich gewünscht, es ihnen zu wissen zu tun. Doch wagte ich's nicht, aus Furcht, sie könnten denken, daß ich unverschämt wäre und ihnen einen Fingerzeig geben wollte, mir noch mehr zu schenken. Hier also, in diesen Blättern, wenn sie ja sollten einst öffentlich im Publico erscheinen, sage ich euch allen meinen Dank laut, wenn noch einer von euch leben sollte, der dieses liest. Seht daraus, daß nicht immer Wohltaten an Undankbare, die es nicht verdienen, zugewendet werden. Gott lohn's euch! An jenem großen Tage, wo wir uns alle finden und kennen werden, freue ich mich, auch euch zu finden.

W.H.: Gleich nach Ostern 1764 kam H. Ekhof und seine Frau nebst Demois. Schulz, nachherige Mad. Boeck, zu uns. Das erste Stück, in dem ich mit Ekhof spielte, war das Lustspiel »Der Spieler«. Er war Vater, ich Angelique. Als das Stück aus war, kam Ekhof zu mir und sagte: »Madem. Schulze, ich danke Ihnen für Ihr heutiges Spiel. Ich bin nicht der Mann, der Komplimente macht. Meine liebste Schauspielerin, mit der ich gespielt, war Mad. S., aber so zufrieden war ich mit ihr nicht, als ich das erste Mal mit ihr spielte, wie mit Ihnen. Ich kann Ihnen nichts sagen, das Sie künftig, wenn das Stück wieder gegeben wird, anders machen sollen. Ich sage Ihnen, ich freue mich darauf, mit Ihnen in großen Rollen zu spielen!« (Die Gelobte wehrt bescheiden ab und möchte durch die Belehrungen eines in seiner Kunst so großen Mannes recht viel lernen.) Nach der Zeit, als Ekhof mich in verschiedenen Rollen sah, sagte er oft zu mir: »Besser habe ich die Rolle nie spielen sehen.« Meine Antwort: »Was ist gut, Ekhof, das nicht noch besser gemacht werden kann? Stellen kann man unnachahmlich treffen, aber ganze Rollen?«

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 172-182.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon