Maler Stein und Herr Schiro.

[239] Inzwischen sollte sich in den letzten Monaten doch noch ein neuer Auftritt ereignen. An einem Nachmittag vor dem Advent saß ich ganz allein in meinem Zimmer, als ich ganz unerwartet einen Besuch erhielt von Herrn Stein, der ein Porträtmaler war, ein Mann, dessen ganzes Gesicht und Betragen mir im höchsten Grade, schon seit ich ihn das erstemal, als ich nach Hamburg gekommen, sah, zuwider war. Hatte mir freilich nicht, daß ich's wußte, was zuwider getan; aber genug, ich konnte solchen nicht ausstehen. ›Wo kommst du noch her?‹ dachte ich dann. Nie war er bei mir. Also nach den ersten kalten und höflichen Komplimenten hub er an: »Ach, Madem. Schulze, ich habe eine große Bitte an Sie. Aber Sie müssen mir solche nicht abschlagen.« »Herr Stein, wenn ich kann!« »O ja, Sie können. Ich habe Madame Hensel gemalt, nun wünschte ich auch Ihr Porträt zu malen. Dann will ich beide, weil Sie doch die berühmtesten Schauspielerinnen sind, in Kupfer stechen lassen, Madame Hensel als Tragödie und Sie als Komödie.« »Herr Stein, Sie erweisen mir allzuviel Ehre. Hat Mad. Hensel sich malen lassen und will sich in Kupfer stechen lassen, kann sie's gern tun. Ich aber will weder das eine noch das andere, besonders hier.« Herr Stein bat und flehte. Ich aber blieb bei meinem Entschluß. Herr Stein sagte: »Oh, wahrhaftig Sie müssen,« und setzt sich nieder, nimmt eine kleine elfenbeinerne Tafel heraus nebst Pinsel und Farben und fängt an, mich anzusehen, sehr scharf, und punktiert auf dem Täfelchen herum. Ich dachte der Mann ist toll geworden,[239] und lachte, so daß mein Gesicht gewiß keinen Augenblick einerlei Miene hatte. Wie wirst du den Bengel los? Hurtig besann ich mich und sagte: »Herr Stein, machen Sie mir keinen Verdruß! Den Augenblick wird mein Bruder kommen. Der würde nicht wenig aufgebracht werden. Wissen Sie was? Kommen Sie künftigen Sonntag gleich um ein Uhr! Da können Sie mich malen. Haben ja jetzt hier kein gutes Licht.« Voller Vergnügen packte er seine Sächelchen zusammen und trippelte fort. Niemand war froher wie ich!

Natürlich läßt sie sich am Sonntag verleugnen, um so mehr, als er einen schlechten Ruf hat.

Es gehen 14 Tage vorbei, an einem Sonnabend hatte ich eine zahlreiche Gesellschaft bei mir, und H. Stein mit einem sehr jungen Menschen treten zu uns ins Zimmer. Stein entschuldigt sich daß er seinen Freund mitgenommen. »Hat nichts zu sagen; nehmen Sie Platz!« Das Gespräch war bald allgemein. Endlich frägt mich Stein: »Mademoiselle, haben Sie noch nicht mit der Person davon gesprochen, und wird sie sich dazu entschließen?« »Gesprochen habe ich sie; aber sie kann und wird sich niemals dazu entschließen. Das soll ich Ihnen sagen.« »Das tut mir leid!«, und in dem stand er auf. »Ja, Sie müssen ihr das nicht übel nehmen; sie hat einen ganz eigenen Kopf.« »So scheint es,« machte sein Kompliment und ging mit seinem jungen Herrn wieder fort.

Die Gesellschaft gibt ihr recht, nachdem sie erfahren, um was es sich handelt. Bald darauf kommen mit einem Briefe, der lichterlohe Liebe ausspricht, zwei vortreffliche Arm-Brasselette mit sehr großen und prächtig gefaßten Topasen. Der Absender ist jener stille, blöde, junge Begleiter Steins, der Sohn, wie sich nachher herausstellt, des Reformierten-Predigers Giraud (Schiro). Wer es ist, erfährt man von Ekhof, dieser ist einmal im Theater von ihm aufgesucht worden. Auf einer Maskerade hat er, so hört man weiter, für Stein und zwei von diesem mitgebrachte liederliche Weibspersonen bezahlen müssen. Karoline möchte ihn gern retten und läßt ihn auf einen zweiten zärtlichen Brief hin zu sich kommen.

Mit dem Schlage 2 Uhr stand er auf den andern Nachmittag in meiner Stube. Ich hieß ihn leutselig willkommen.[240] Er setzte sich zu mir, und nun fragte ich ihn, was eigentlich sein Anbringen sei, bat ihn aber zugleich, um seiner selbst willen, mir nichts zu verschweigen und mir aufrichtig alles zu gestehen, was in seinem Herzen und Kopf vorgehe. Mit einem Blick voll Bescheidenheit gestand er, daß er mich schon sehr lange liebte, nie aber gewagt hätte, es mir zu sagen, bis jetzt, da er wüßte, ich würde Hamburg bald verlassen. Seines Vaters Absicht sei, daß er die Theologie studieren solle, und wollte ihn nach Holland schicken. Wär's auch entschlossen gewesen, wenn ich nach Wien gegangen wäre. »Nun ich aber gehört, Sie gehen nach Leipzig, will ich meinen Vater bitten, daß er mich auch dahin sende. Aber anstatt zu studieren, will ich mich bei H. Koch zum Theater engagieren, und wenn ich dann bei solchem bin und Sie mich Ihrer würdig finden, sei es denn auch erst in sechs Jahren, Sie um Ihre Hand bitten. – Wollen Sie aber dieses nicht, so gehe ich nach Holland, studiere da, und versprechen Sie mir, sich in sechs Jahren nicht zu verheiraten. Vielleicht stirbt mein Vater noch eher, der schon sehr alt ist. Ich komme von Holland zurück und reiche Ihnen meine Hand.« »Liebes Kind, Sie müssen noch sehr jung sein. Wie alt sind Sie?« »16 Jahre.« »Schön, und ich 21.«

Sie führt ihm nun den Altersunterschied zu Gemüte und besonders nachdrücklich seinen Mangel an Sohnesliebe und an Rücksicht auf ihren Ruf. Wenn er wirklich bei Koch ankäme, was sie nicht glaube, würde sie sofort gehen. Vor ihr kniend und weinend, fleht er sie an, wenigstens seine Briefe und Armbänder zu behalten. Sie behält mit Mühe ihr Lächeln bei, macht ihm klar, daß sie aus Mitleid seinen Eltern nichts gesagt, und verweist ihn auf das vierte Gebot. Uebrigens würden die 6 Jahre hingehen, und er würde nicht einmal daran denken, daß eine Schulzen in der Welt war.

Nun sprang er von der Erde auf. »Nein, das ist zu hart. Mich so was zu beschuldigen! Ich Sie vergessen?! Nie, niemals! Weil Sie denn das von mir denken, nun, so sollen Sie auch alles wissen. Kann Sie nicht vergessen, denn wissen Sie, ich habe Ihr Porträt viermal. Einmal in einer Dose, die hatte ich bei mir, als ich das erstemal bei Ihnen war, ging aufs Kaffeehaus, spielte Billard und stieß an die[241] Tasche, zerbrach den Deckel. Die Dose ist von Porzellan, muß nach Berlin, damit ein neuer Deckel darauf gemacht wird. Dann habe ich Ihr Porträt, um es an die Wand zu hängen, dann in einem Berloque und dann in einer Kapsel.« »Und die sind?« »Von Stein.« »Und kosten wohl schönes Geld?« »Und wenn's mich Tausende gekostet hätte!« »Hören Sie mich nun auch! Sie, der Sie noch unter der Zucht eines Vaters stehen, sehen mir gar nicht danach aus, daß Sie so von Tausenden sprechen können. So viel Geld gibt kein Prediger seinem Sohn, der noch dazu bei ihm im Haus ist, und kann's nicht geben. Aber ich will Ihnen nun auch noch alles sagen. Stein ist ein Schurke, ein Kuppler, ein Junge-Leute-Verführer.«

Sie spricht von Maskerade. Er meint, Stein werde ihm das Geliehene wiedergeben.

»Wiedergeben? Ja, wenn der Teufel stirbt, aber er ist noch nicht krank. Kind, Kind! Betrachten Sie den Abgrund von zeitlichem und ewigem Verderben, worauf Sie stehen!«

Er nennt sie einen Engel.

»Ja, Ihr Schutzengel, der bin ich auch.«

Briefe und Geschenk behält sie auf seine kniefällige Bitte, wenn auch ungern, unter strengen Bedingungen. Nachdem er unter entsetzlichen Weinen ihre Hand geküßt, geleitet sie ihn an die Treppe und ruft ihr Mädchen, worauf er geht. Sie aber fährt zu ihren Freunden, erzählt alles und nimmt Abrede für die Maskerade am Freitag, wo sie alle in brauntaftenen Dominos, weiß garniert, erscheinen wollen.

Freitag morgen richte ich mir eben meinen Putz zurecht, als Herr Ekhof wie ein Bär in meine Stube tritt und mir sehr trotzig »Guten Morgen« sagt. »Guten Morgen!« lachte ich her, denn ich war in meiner besten Laune, machte mein weißes Hütchen mit Blumen zurecht und trillerte dazu. Ekhof aber lief mit schnellen Schritten in der Stube auf und nieder und brummte: »Schöne Wirtschaft, das ist wahr! – Wo ist er hin? Ist abscheulich! Eine Schande für uns alle! Wo ist er hin mit samt dem andern?« Ich lachte aus vollem Halse und sagte: »Weiß Gott, Ekhof, hab's lange gedacht, daß Sie noch einmal ein Narr werden würden.« »Und Sie lachen?« »Warum soll ich denn weinen? Etwa, daß ich vom Hamburger[242] Theater kam? Wäre auch der Mühe wert.« »Machen Sie keinen Scherz, Mamsell! Die Sache ist ernsthaft.« »Aber was denn? Was wollen Sie denn?« »Ist nicht der junge Mensch fort mit noch einem?« »Was für ein junger Mensch?« »Pastor Schiro sein Sohn.« »So, ist der fort? Ja, was geht das mich an? Können ihn wieder haben.« »Und Sie wissen nicht, wo er hin ist? Ist er nicht auf Ihr Zureden fort, weil er sich in Sie verliebt hat? Hat er Ihnen nicht für so viel Tausende Präsente gemacht? Da, da (indem er mein Kleid anfaßte), das wird wohl auch von ihm sein.« »Herr Ekhof, danken Sie Gott, daß Sie heute zu mir gekommen sind, wo ich in meiner besten Laune bin. Wäre ich in einer anderen, so hätte ich Sie schon bereits die Treppe hinunterfallen lassen. Heute will ich mich nun durchaus nicht aus diesem rosenfarbenen Humor bringen lassen, obgleich mein Kleid braun ist – aber weiß garniert. Hier! Betrachten Sie dieses Kleid ganz! Ist's nicht allerliebst garniert? Nun sehen Sie diese Schleifen und den niedlichen Hut!« »Mamsell –« »Ekhöfchen, halten Sie noch Ihr Maul! Glänzen will ich diesen Abend, wie eine Grazie. Tanzen, lustig sein die ganze Nacht. Morgen den ganzen Tag ausschlafen und auf den Sonntag, ja, den Sonntagnachmittag dem Herrn Pastor Schiro meine Aufwartung machen.« »Und das wollen Sie sich unterstehen?« »Höfchen – –, ich fühle, daß meine rosenfarbene Laune beginnt, schon braun zu werden. Hüten Sie sich, daß sie nicht schwarz wird, oder, hol mich der Teufel, ich werfe Sie zum Zimmer hinaus und die Treppe hinunter.« Meine Stimme stieg immer stärker. »Kennen Sie mich? Wissen Sie, wer ich bin? Muß man denn mit aller Gewalt mit grob werden, um euch Hamburger höflich zu machen? Hat Ihre ganze Anrede nicht ganz was anderes von mir verdient? Welcher Ausdrücke unterstanden Sie sich gegen mich zu bedienen? Wissen Sie, was Sie gesagt haben? Und bin ich die, der Sie sich unterstehen dürfen, so was zu sagen? Sie, der Sie nichts wissen, urteilen, wie der Blinde von der Farbe.« »Aber, Mamsell Schulze, so sein Sie doch nicht böse. Sie wissen, wie viel ich von Ihnen halte.« »Ja, das weiß ich, aber grob müssen[243] Sie nicht sein.« »Der Pastor ist mein Freund.« »Kann sein; aber mich wird er noch lieber haben, wenn er mich nur erst kennt.« »Aber so sagen Sie mir doch, kennen Sie den jungen Menschen?« »Und wie! ... Sehen Sie, Herr Ekhof, wären Sie artig gewesen und hätten mich bescheiden gefragt, so wüßten Sie nun die ganze Geschichte. Nun aber zur Strafe sollen Sie nichts wissen, und das ist die größte Strafe, die ich Ihrer hamburgischen Neugierde geben kann. Warum waren Sie grob? Lernen Sie hübsch dadurch, höflich werden, und sagen dabei, daß Sie mein Schüler, ich aber nicht Ihre Schülerin bin.« Nun trillerte ich wieder und übte mich, wie ich den Abend voll Grazie die Menuette tanzen würde. Ekhof wußte nicht, woran er war. Aergerte sich, war neugierig und erfuhr nichts und ging endlich fort.

Ich blieb bei meiner guten Laune und sagte es Karl, als er kam, der denn brummte und meinem guten Herzen Vorwürfe machte, daß ich den Jungen geschont und nicht gleich dem Vater den Handel entdeckt hätte. Hatte freilich ganz unrecht nicht. Doch nach meiner Denkungsart, die, wenn ich Gelegenheit hatte, lieber in der Stille Tugenden ausübte, wenn mir gleich Schein derselben oft abgesprochen wurde. War ich's doch in meinem Herzen. Wie viele wies ich nicht so im Stillen von mir ab, ohne Geräusch, ohne Aufsehen! Ueberhaupt ist nicht mein Endzweck, einen Liebesroman zu schreiben.

Nur, wovon doch einmal die Leute gesprochen, will sie auch Erwähnung tun.

Hier in diesen Blättern ist Wahrheit ohne Schmuck, ohne Wortgesuche, so wie ich im Leben sprach und handelte und wie man mit mir sprach und mich behandelte. Kommen keine Ordensbänder und Sterne zum Vorschein, die ich spazieren geschickt. Was nicht ganz laut wurde, will ich auch nicht laut machen.

Meine Freunde kamen der Abrede gemäß und kleideten sich vollends bei mir an. Ich erzählte ihnen den Morgenbesuch, und alle lachten herzlich. Denn man mußte Ekhof und mich kennen, um das alles so possierlich zu finden, wie es war. Ich hatte Zeugen, was wollte ich mehr? Nur, wo der Teufelsjunge[244] hingelaufen, wünschten wir zu wissen. Doch sollten sie ihn nicht wiederbekommen, so war meine Absicht, nach Leipzig zu schreiben.

Wir fuhren nun nach der Maskerade, und ich tanzte wacker mit. Als die erste Tour der englischen Tänze vorbei war, ging ich mit meinen Freunden zum Teetisch und trank Tee. Wie ich so dastehe, sehe ich mich um, und nicht fern von mir steht der verdammte schielende Maler Stein als Spanier gekleidet. Den zu sehen und so recht ganz à la Schulze aufzufahren, war eins. »Da, da ist der infame Kuppler!« »Wer, wer?« schrien die Masken um mich herum. »Stein, die Kanaille! Hierher Kerl!« und will auf ihn zu. H. Kummerfeld hielt mich ab, und Stein verlor sich unter die Masken. Alles drängte sich nun um mich herum, und ich erzählte die ganze Geschichte. Nun ging's ans Schimpfen. Jeder sagte: »Der Schurke muß fort vom Saal.« Aber Stein war schon fort und ließ sich auf keinem Ball mehr sehen, müßte denn nach der Zeit sehr vermummt dagewesen sein.

Den Sonnabend schon ließ ich mich zum Sonntag bei dem Pastor Schiro melden. Man ließ mir zurücksagen, ob ich nicht so gut sein und den Montag nachmittag 2 Uhr kommen möchte; er hätte den Sonntag wegen dem Kirchendienst nicht wohl Zeit. Ließ sagen, ja, ich wollte den Montag kommen. H. Ekhof kam den Sonntag mit der Zeitung, sie hätten den jungen Herrn in Bergedorf noch angetroffen und solchen mit Gewalt nach der Eltern Haus gebracht. Das freute mich herzlich. »Nun brauche ich meine Zeugen nicht.« So außerordentlich höflich Ekhof den Morgen war, so erfuhr er doch nichts und ging mit Kopfschütteln fort.

Montag fuhr ich nach des Pastors Haus. Ich wurde sehr höflich von ein paar alten würdigen Leuten aufgenommen, deren erster Anblick Ehrfurcht einflößte. Der Pastor, ein Mann in die 70, und seine Frau in die 60 Jahre. »Es ist mir ungemein angenehm, noch vor meiner Abreise so ein paar würdige Personen kennen zu lernen, und wünschte ich, daß die Veranlassung nicht die wäre, die sie ist. Ich habe[245] gehört, Ihr Sohn ist wieder da. Haben Sie die Güte und lassen ihn rufen!« »Mademoiselle, können Sie nicht ohne ihn – –« »Nein, Herr Pastor, nur in Ihres Sohnes Gegenwart kann und werde ich sprechen.« Ich setzte mich. Die Frau Pastorin ging fort und kam bald wieder, doch ohne ihn. »Er ist nicht angezogen und in seinem Hauskleid.« »Frau Pastorin, Ihren Sohn habe ich zu sprechen, sein Kleid nicht. Kann kommen, wie er ist.« Sie ging zum zweitenmal und kommt auch zum zweiten Male wieder ohne ihn. »Er schämt sich, zu kommen.« »Hat er sich nicht geschämt, zu tun, was er nicht sollte, so muß er sich auch nicht schämen, das Geschehene zu verbessern und wieder gut zu machen.« Die Frau Pastorin ging zum dritten Male und kam zum dritten Male ohne ihn. »Sein Bruder will für ihn herunterkommen. Er schäme sich vor Ihnen, und er könne nicht.« »Frau Pastorin! Herr Pastor! Mein Vater war nur ein Komödiant, aber das hätte ich mich auf meiner Eltern Befehl nicht unterstehen dürfen, ob ich gleich ihr Liebling war. Was soll ich seinen Bruder sprechen? Was weiß der? Kenne ich ihn? Ich bin kein Kind. Entweder er kommt herunter zu uns oder (indem stand ich auf) Sie führen mich beide nach seinem Zimmer. Und wollen Sie das nicht, ja, so ist's mir leid, daß ich unverrichteter Sache hergekommen bin. Doch auf mein Wort! Ich suche die Sache weiter, kann solche so nicht liegen lassen, und dann wird er mich wohl sehen und sprechen müssen. Soll ich nun so fort, oder wollen Sie als Vater befehlen?«

Der Alte sah mich an, wurde etwas bestürzt, wendet sich zu seiner Frau: »Zum letzten Mal ließe ich's ihm befehlen.« Nun, zum vierten Male endlich, erschienen beide. Mühe hatte ich, an mich zu halten, wie ich den unbesonnenen Jüngling sah. Mein Gott, wie sah er aus! Wie aus dem Grabe genommen! Er erregte mein ganzes Mitleid. Doch ich mußte es verbergen. Er konnte mich nicht ansehen, bückte sich, ließ sich auf einen Stuhl nieder und sah starr vor sich hin. »Monsieur Schiro, Sie wissen unsere Abrede, wissen, was Sie mir, was ich Ihnen versprochen. Sie hielten nicht Wort und entbinden mich also auch meines Versprechens[246] gegen Sie. Doch bitte ich Sie vorher, ehe ich mehr sage, daß, wenn ich in meiner gegenwärtigen Aussage ein Wort sollte sprechen, das nicht die heiligste Wahrheit ist, Sie mich hier öffentlich vor Ihren Eltern eine Lügnerin nennen.« Nun erzählte ich alles, Wort für Wort, was ich bereits geschrieben, und so, wo die Stellen waren, daß ich den einen, dann den anderen Brief erhielt, überreichte ich solche dem Vater. Als ich an die Stelle kam von den Pflichten, die er seinen Eltern schuldig wäre, weinten die Alten bitterlich. Der Sohn saß da mit gesenktem Haupt, hatte seine Hände auf seine beiden Knie gelegt, und Tränen tropften darauf.

Es war alles still; nur ich sprach. Und wahrlich, ich ward so feierlich, als ich es noch nie gewesen. Die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern, der Eltern gegen ihre Kinder, daß, wenn sie auch aus Jugend und Leidenschaft einmal fehlten, sie deswegen noch nicht lasterhaft wären. »Dieser Vorfall, Herr Pastor, hat Ihnen vielleicht schlaflose Nächte gemacht. Doch preisen Sie Gott dafür! Denken Sie, wenn Ihr Sohn an eine leichtfertige Dirne sich gehängt! Glücklich die Eltern, wenn die erste Liebe ihrer Kinder auf reelle Gegenstände fällt! Haben mich wohl schon in Ihrem Herzen verdammt, haben mir geflucht, wo Sie mich doch hätten segnen sollen! Aber Sie wußten's nicht besser. Sehen Sie, daß man nie voreilig mit Beurteilen sein soll. Lernen Sie daraus, guter Vater, daß jeder Stand rechtschaffene, edle Menschen hat, daß man nicht auf den Stand, sondern auf den Menschen selbst sehen muß. Auch in den Rock des Priesters sah ich Bösewichter.«

»Mademoiselle,« sagte der Alte, »45 Jahre bin ich Prediger, 45 Jahre bediene ich den Altar. Aber mehr und bessere Lehren kann ich weder meiner mir von Gott anvertrauten Gemeine sagen, noch meinem Sohne geben. Gott segne Sie! Folgt mein Sohn Ihren Vermahnungen, Ihren Lehren, so bin ich der glücklichste Vater. Mademoiselle, darf ich mich unterstehen, Ihnen selbst diese Armbänder – –« »Ich danke Ihnen, Herr Pastor! Nehmen kann ich sie nicht. Legen Sie solche in Ihre Bibliothek zur Erinnerung an die[247] Geschichte! Geht Ihr Sohn einst auf Reisen, so geben Sie ihm eins davon mit, und wenn er Neigung auf ein anderes Mädchen werfen will, erinnere er sich des Armbandes und werde weise, überlege, ob solche sich für ihn schicke, ob solche so redlich ist wie die, der er es zuerst gab. Ist sie dann wert, Ihre Schwiegertochter zu heißen, nun, dann geben Sie ihr das andere dazu, dann trage sie solche und denke, die zuerst sie hatte, ist mit Ursache, daß dein Gatte ein tugendhafter Jüngling und rechtschaffener Ehemann wurde.«

»Mademoiselle, Sie beschämen mich ganz. Gott, wenn es Ihnen je unglücklich gehen könnte! Nein, Sie müssen einst noch sehr glücklich werden!« »Was Gott will, Herr Pastor. Sind nicht alle Menschen bestimmt, hier glücklich zu sein. Doch leben Sie wohl, ich muß zu meiner Arbeit.« Der Alte nahm meine Hand und legte solche in die Hand seines Sohnes. »Hier, versprich meiner, deiner Freundin, daß du ihren Lehren folgen willst!« Der Sohn weinte entsetzlich, war kalt wie Eis. Ich dachte immer, er würde hinsinken. Die Mutter sagte: »Küsse die Hände deiner, unserer Wohltäterin! Er neigte sich auf solche, hielt sie zitternd, küßte sie, und heiße Tränen fühlte ich. Mein Herz blutete, doch alle Kräfte raffte ich zusammen und nahm Abschied. Noch hielt mich der Sohn bei meiner Rechten, der Vater meine linke Hand, die Mutter lag auf meinen Schultern, alles weinte um mich – – –«

Ich war nicht imstande, mehr ein Wort zu reden. Der Alte zu mir: »Kind, Gott sei auf allen Ihren Schritten! Nie werde ich vergessen, nie ein Auge schließen, nie die Kanzel, nie den Altar betreten, ohne nicht auch zugleich für Sie zu beten, Ihnen zu danken. Gott, Gott segne Sie, liebes, gutes Kind!« Stillschweigend dankte ich, küßte die Mutter und eilte zum Zimmer hinaus. Der Alte, mit seinem Silberhaar und seinem halbnackten Kopf, und die Mutter brachten mich an den Wagen. Der Sohn flog außer sich die Treppe hinauf, vielleicht nach seinem Zimmer. Und so kam ich in meine Wohnung zurück mit dem ganzen Gefühl und Bewußtsein: Hast rechtschaffen gehandelt, hast Menschen glücklich gemacht.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 239-248.
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