Abschied von Leipzig.

[276] Als der Hochzeitstermin endlich auf die Fasten endgültig festgesetzt ist, muß sie Koch in Kenntnis setzen. Die Hälfte ihrer noch übrigen Lebensjahre gäbe sie hin, wenn sie zu gleicher Zeit Kummerfelds Gattin und bei Koch Sauspielerin sein könnte. Oft, wenn Mad. Koch sie freundlich nach dem Grund ihres stillen, schwermütigen Betragens fragte, riß sie sich aus ihren Armen und weinte laut. Ihren Bruder, der die Verlobung zufällig erfährt und entrüstet ist, nicht ins Geheimnis gezogen zu sein, beruhigt sie. Sie verspricht im, für sein weiteres Engagement bei Koch oder bei Kurz, mit dem se nicht ohne Ursache in Briefwechsel bleibe, oder bei Doebbelin in Berlin zu sorgen. Gleichzeitig erhielt er von ihr eine ziemliche Summe, um sich aus einem verdrießlichen Handel zu ziehen, folgte ihren Vorstellungen und Ermahnungen und schwärmte nun einige Zeit weniger, als er bisher getan. Zu Nebenverdienst durch Information hatte er in Leipzig keine Zeit, da die Ballette im zu viel Stunden wegnahmen und er seine Musik selbst schrieb.

Schließlich hört auch Koch von ihrer Verlobung. Tieftraurig fragt er sie eines Abends: »Ist's denn wahr? Soll ich meine Schulzen verlieren?« Heute hat sie so viel zu tun. Aber morgen tanzt sie nur; da wollen sie miteinander sprechen. Die ganze Nacht kann sie kein Auge schließen und weint sie. Die Briefe ihres Wilhelm, seine Liebe, die Aussicht auf ein ruhiges Alter müssen das laute Geschrei in ihrem Herzen stillen.[276]

So bereitete ich mich nach und nach vor, um mit H. Koch in der gehörigen Fassung sprechen zu können. Viele Briefe hatte ich angefangen und wollte es ihm erst schriftlich sagen. Doch meine Tränen ließen mich keinen vollenden. Ja, ich kann sagen, lange hatte ich nicht so eine qualvolle Nacht durchwacht. Der Morgen und Mittag war nicht viel besser. Endlich kam die Stunde, um nach dem Theater zu gehen. Als ich zum Ballett angekleidet war, wartete bereits der gute Alte auf mich. Wir gingen abseits, daß uns niemand hören konnte, und mit bebender Stimme frug ich ihn: »Nun, lieber H. Koch, was haben Sie mir zu sagen?« »Alles sagt mir, ich soll Sie wieder verlieren. Einige behaupten, Sie gingen auf die Fasten nach Wien; andere sagen, zu H. Kurz nach Mainz, wieder welche nach Hamburg aufs Theater zu der neuen Direktion, und endlich noch andere, daß Sie sich in Hamburg verheiraten würden. Was ist nun von den vier Aussagen die wahre?« »Die letzte!« »Ach Gott,« sagte der Alte, lehnte sich an die Mauer und blieb mit herunterhängenden, gefalteten Händen vor mir stehen. Tränen stürzten aus meinen Augen, und eine gute Zeit lang sprach keiner von uns ein Wort. Starr sah er mir endlich in die Augen und sagte: »Sie hintergehen mich doch nicht?« »H. Koch, welch ein Argwohn! Können Sie sagen, daß, so lange ich bei Ihnen bin, Sie von mir eine Unwahrheit gehört? Ich sollte Sie hintergehen?«

Sie setzt im nun alles auseinander. Er billigt ihren Schritt, um so mehr als er Kummerfeld und seine Rechtschaffenheit kennt, und wünscht allen Segen Gottes über das brave, gute Mädchen. Sie verabreden, daß von ihrem demnächstigen Ausseiden aus der Gesellschaft nicht gesprochen werden soll. Das war am 10. September. Ihr Bruder wird mit einer Zulage von neuem engagiert.

So gingen nun verschiedene Wochen fort in einem abwechselnden Taumel von Freude und Betrübnis. Ich arbeitete fleißig an meiner Aussteuer und wollte mich in allem so gut und vollständig einrichten, daß ich, wenigstens in den ersten Jahren, meinem Mann auch keine Kosten für ein Paar Schuhe zu machen brauchte. Geld brauchte er ja von mir nicht. Ich ließ mir von weißem Mantuaner Taft ein neu Kleid machen. Als ich ins Garnieren kam, fiel solches hübscher[277] aus, als ich selbst anfänglich gedacht hatte. Es gefiel mir auch so wohl, daß ich meinem Wilhelm schrieb, wenn's für seine Braut nicht zu schlecht wäre, so sollte es mein Brautkleid werden. Ich wüßte zwar wohl, da die Hamburger Bräute an ihrem Ehrentage schwere Kleider anhätten. Auch wäre meine Kasse wohl imstande, solches zu bezahlen. Doch wollte ich es reichen Bräuten nicht nachmachen, noch zuvortun. Nur diesen Schimpf wollte ich nicht haben, daß es hieß, sein Mädchen hätte nicht einmal ein Bett mitgebracht. Auch das würde ich in Leipzig machen lassen und mitbringen. Kummerfeld antwortete mir, wenn mir mein Kleid gefiele, so solle es ihm recht sein.

Das Bett soll sie der Transportkosten wegen nicht mitbringen. Dafür will sie auf eigene Kosten reisen. Sie will ihm überhaupt Ausgaben nach Möglichkeit ersparen. Schulden hat sie nicht. Und in den ersten 4 Jahren wird nicht einmal eine Anschaffung einer Elle Band oder auch nur Zwirn nötig sein.

Gegen den Advent breitete es sich nun allgemein aus, und wenn ich es auch noch nicht gewußt hätte, wie sehr man mich in Leipzig geliebt hatte und wie ungern man mich verlor, so mußte ich's nun vollständig überzeugt werden.

H. Professor Oeser bestand darauf, mich zu malen, als Julia in »Romeo und Julia«. Er wählte die Stelle im dritten Akt, letzte Szene, wo Julia sagt: »Mit dem Romeo!« und im Begriff ist, mit den Worten den Schlaftrunk auszutrinken. Ich war damals mit H. Professor Oeser nicht einerlei Meinung, und weil ich doch einmal in einer Stelle aus dem Monolog sollte gemalt werden, wünschte ich, er sollte die wählen: »Komm, glücklicher Trank, du sollst mich mit dem Romeo vereinigen!« Weit leichter würde es mir gewesen sein, mich in der Stellung zu erhalten (als bei den abgebrochenen Worten: »Mit dem Romeo!«), die einen Blick voll Entzücken haben muß, Künstler zu sein, und mir würde es leichter geworden sein. Doch weil nun einmal ein jeder so viel Wahres in gewiß einer der schönsten Stellen finden wollte, so blieb er dabei und auch ich ließ es mir gefallen. Sollte in Kupfer gestochen werden. Damals waren die deutschen Aktricen noch nicht so häufig in Kupferstichen heraus. Nun, da es so allgemein wurde, freute ich mich, daß es Herr[278] Oeser nicht tat und meinen Bitten nachgab. Und ich glaube, daß wohl keine deutsche Aktrice so einstimmig zugleich mit einer anderen sagte und schrieb: »Jetzt ist's eine Schande, in Kupfer gestochen zu sein,« wie Madame Stark und ich.

Endlich kam das für mich so wichtige Jahre 1768. Jeder Posttag brachte mir zärtlichere und vertrautere Briefe von meinem teuren Wilhelm.

Nun hat er die Verlobung auch seiner Familie kund getan. Natürlich hat sie gestutzt: ein Mädchen vom Theater, vermögenslos, katholisch, bei seinem Alter. Aber er müsse sie ja kennen.

Von einiger Bedeutung für sie soll es werden, daß Wilhelm die Verlobung zwischen seiner Halbschwester Marie von Bostel und dem großen Rechtsgelehrten und Prokurator im Gericht, Abendroth, zustande gebraut hat. Es ist junger Witwer mit zwei kleinen Kindern. Clodius kennt ihn. Er ist Schafe von Geburt, hat ein gewandtes Maul und wird von Wilhelm für einen braven, vertrauenswürdigen Mann gehalten. Die Verbindung mit der Schauspielerin billigt er, an das Räsonnement der Welt hat man sich nicht zu kehren. Er wird Karoline als seine liebe Schwester anerkennen. Als er von ihr auf Wilhelms Veranlassung einen Glückwunsch erhalten, schreibt er ihr in liebenswürdigster Weise zurück, indem er sie ganz vertraut »meine Gute« und »süße Schwester« anredet. Er deutet an, daß es Feinde in der Familie gibt, indem er von »triefäugigten Heuchlern mit überhängenden Augenbrauen« spricht. Eine Bette wolle man eingehen, welkes Paar das verliebteste, das glücklichste sein werde. In seinem artigen Garten in St. Georg wolle man sich der sanften Wollust einer festen Freundschaft ganz überlassen. Wie geringe werde ihnen der taumelnde Reichtum vorkommen, wie verächtlich werde ihnen der unvernünftige Geldsack sein! In der Unterschrift nennt er sich der reizenden Schulzin treuer Bruder und Freund. Kummerfeld bemerkt dazu: »Mein Abendrot scheint schon sehr konfident mit dir zu sein, schreibt ›Liebste Karoline‹. Ihr gelehrten Leute könnt so bald Freundschaft machen.«

Ihn selbst hat ein Herr des Rats gefragt, ob es denn mit seiner Heirat wahr wäre und er es in der Ratsversammlung sagen könne. »Ja, hochweiser Heer,« hat er da antworten können. Bis zu Hochzeit will er nun kein Frauenzimmer mehr küssen. Seine Braut dagegen spricht er von der gleichen Verpflichtung frei, da sie ja nun so viel Abschied zu nehmen habe. Ihr Mäulchen bleibe doch sein. »Guten Abend, meine beste Seele, du mein All. Mein Herz hüpfet vor Freuden.« Das sind gelegentliche Wendungen in seinen Briefen. Aber seine Schreibweise ist nicht die es witzigen Abendroth, der z.B. sagt, daß er bei einem niedlichen Streit mit seinem Mädchen ohne das langsame, umrauschende Küssen wohl nicht recht behielte. Nein, Kummerfelds Art ist einfacher.[279]

»Da ist nichts Romantisches, da ist reelle Liebe, so wie der Mann liebt, lieben muß. Nichts von Schwärmerei. Manchem Mädchen, dessen Kopf und Herz schwindelig geworden von Empfindeleien, Gezier und phantastischen Einbildungen, werden freilich diese Briefe nicht nach Geschmack sein. Mein Mann sollte mich lieben, nicht anbeten oder vergöttern.«

Alles drängt nun schon auf Abreise und Hochzeit hin: nötige Papiere werben besorgt, Ratschläge für die Reise gegeben, der Lizentiat Wittenberg, der die Besorgung des »Hamb. Correspondenten« hat, wird dringend aufgefordert, nichts mehr über ihren Abschied von der Bühne und von Leipzig zu bringen und anzunehmen; denn sie will Neider haben und fürs Theater tot sein. Da erhält sie einen sehr erkältenden Brief von ihrem künftigen Schwager Heinrich Kummerfeld, aus dem hervorgeht, daß die Vorurteile der Welt gegen die Schauspielerin von und der Familie entfernt nicht so überwunden sind, wie man sie hat glauben machen wollen. Indessen werden ihre Bedenken beschwichtigt. Wilhelm denkt nicht daran, seine Heirat deshalb aufzugeben, weil sein Bruder von einem gallsüchtigen, neidischen Mädchen aufgesetzt ist. »Kleine Schwärmerin,« schreibt er, »wie quälst du dich und mich!« Nächsten Sonntag will er kommunizieren.

So wie ich meinem Wilhelm berichtet, so spielte ich den 17. Februar das letztemal die Sara von Lessings Trauerspiel. Das Haus war den Abend sehr voll, denn man wußte es allgemein, daß ihre Schulzen zum letzten Male mitspielen würde, und jeder wollte sie noch zuletzt sehen. War's die Stimmung, in der ich den Abend war? Aber jeder sagte, so oft ich auch die Sara in Leipzig gemacht, so wäre sie mir doch so noch nie gelungen, wie den letzten Abend. Besonders der letzte Akt. Alles weinte um mich her, und diese aufrichtigen Tränen, die ich um mich fließen sah, waren meinem Herzen mehr empfindlich, als der laute Beifall, den man von so vielen Händen mir zuklatschte. Den 18. spielte ich nicht mehr mit. Das Ballett war »Die Blumenhochzeit«, und als ich als Braut, mit Kränzen und Bändern geschmückt, in der Reihe folgte, schrie alles und applaudierte: »Die Braut, die Braut, unsere Schulze, unsere Schulze!« Der 19. war dann der letzte Abend, daß ich auf dem mir ewig unvergeßlichen Leipziger Theater im Ballett auftreten sollte. Das Ballett[280] hieß: »Der bezauberte Wald«. H. Koch hatte noch so eine volle Einnahme, daß man nichts sah, wie Kopf an Kopf. Schon als ich in meinem Wolkenwagen noch in der Höhe schwebte, erschallte die letzte Ehre, die man mir hatte beweisen wollen. Gott weiß es, ich nicht, wie ich den Abend noch so, so mit aller Stärke habe tanzen können. Ich fühlte nichts von dem Glück, das meiner wartete, ich fühlte nur das: heute das letztemal bei deinen guten Leipzigern, die ganz Nachsicht, ganz Liebe, ganz Güte gegen dich waren. Oh, daß ich mehr für sie hätte tun können, daß ich so manchen Abend frei sein mußte, daß ich hier nicht soviel wie bei Ackermanns zu tun hatte! Als ich mit meinem Bruder im Finale das Minor fast zum Schluß hatte, blieb ich stehen und wies durch Pantomime, daß ich nun aufhörte, mit ihm zu tanzen. Mein Bruder drückte seinen Verlust aus durch eine wehmütige Stellung. Ich trat nun vor, neigte mich gegen das Parterre, alle Logen und die Galerie. Mein Blick sagte, was ich fühlte, Tränen, die mit Macht aus meinen Augen stürzten, mehr, weit mehr, als Worte hätten sagen können. Wenn ich auch wirklich, wie es der Wunsch von so vielen war, eine Abschiedsrede hätte halten wollen, ich würde nicht drei Worte haben vernehmlich herausbringen können. Noch fühle ich den schmerzhaften Augenblick so lebhaft, daß ich mich oft jetzt noch im Schreiben unterbrechen muß, weil meine Tränen die Worte verlöschen, dankbare Tränen. Ich schäme mich eurer nicht. Kann euch, ihr Edlen, die ihr damals in Leipzig wohntet und zum Teil noch da seid, ja sonst nichts zur Wiedervergeltung bringen. Mein Bruder, als ich den stummen Abschied genommen hatte, stand wie außer sich da, fiel mir um den Hals und küßte mich. Alles weinte laut, nicht ein Auge im ganzen Schauspielhaus war trocken. Man schrie, man schlug in die Hände und rief: »Vivat, lebe wohl, lebe glücklich, sei Dank! Dank dir!« Ein solcher Abschied, wie dieser, war wohl nie erlebt worden – und wird nie wieder erlebt werden. Noch hatte ich etwas weniges zu tanzen, aber ich konnte nicht, ich schwankte nur hin und her und konnte keinen ordentlichen Pas mehr machen. Auch alle übrigen Tänzer und Tänzerinnen nicht, denn sie weinten;[281] ja, sogar die geringsten, die Theaterleute, reichten mir, als alles aus war, ihre treuherzigen Hände und sagten: »Gott laß es Ihnen doch wohl gehen! Sie waren immer so gut, auch sogar gegen uns, und haben keinem eine böse Miene gemacht, viel weniger ein unfreundliches Wort gesagt.«

Spät war's, als ich den Abend nach Hause kam, weil so viele, die ich nie gesprochen, noch gekannt hatte, alle nach dem Ballett auf das Theater gestürzt kamen, um Abschied zu nehmen.

Als ich nach Hause gekommen, dachte ich so allem nach. Gott! Wenn ich's je bedauern müßte, Leipzig verlassen zu haben? Heute, heute vor zwei Jahren das erstemal in deines Kummerfeld Haus. Heute das letztemal auf dem Theater. Und was heute über ein, zwei oder mehrere Jahre? – Glücklich – oder unglücklich? – Gott, du, du wirst es wissen.

Den Tag darauf kam viel Besuch, sowohl von Personen, die ich kannte, wie von vielen, die ich nicht kannte. Wie froh war ich, daß ich nicht mehr viel einzupacken hatte, weil bereits meine großen Koffer fort waren und ich nur noch einen bei mir hatte. Den Sonntagnachmittag und -abend bis spät in die Nacht brachte ich bei Herrn und Madame Zemisch zu. Montag nahm ich vollends Abschied bei allen meinen Bekannten. Dienstag, als dem letzten Abend in Leipzig, wurde mir zu Ehren in Oertels Haus ein Souper gegeben. Die nicht selbst bei dem Souper sein konnten, kamen vor demselben. Alles, was in Leipzig in Ansehen und geachtet war, Kaufleute und Gelehrte, von Adel und bürgerlichem Stande, kurz, jeder bezeigte mir noch zu guter Letzt seine Aufmerksamkeit und versicherte mich, daß ich mit Achtung der ganzen Stadt Leipzig verließe. Bedauerten, daß eben den Abend noch drei große Soupers in der Stadt wären, daß sie nicht alle von diesem gewußt, indem sich gewiß keiner von dem Vergnügen würde ferngehalten haben, noch den letzten Abend in meiner Gesellschaft zu sein. Doch da sie vernommen, daß ich in Oertels Haus wäre, hätten sie doch das Vergnügen sich verschaffen wollen, mich noch einmal zu sehen, zu sprechen, wenn auch nur auf wenige Minuten.[282]

Gegen 9 Uhr setzten wir uns zur Tafel. Einige 80 Personen waren wir zu Tisch. Man setzte mich als Braut oben an. Auf der Blatmenage, die Beziehung auf mich vorstellte, war ein kleiner Amor, der mir die Devise entgegenreichte:


»An Mademoiselle Schulze!

Zur Ehre des Geschmacks, zum Ruhm der deutschen Bühne, Bewundert und geliebt, leb' unsere Karoline.«


Gegen 12 Uhr, wir saßen noch an der Tafel, kamen noch alle die, die vor der Tafel nicht kommen konnten. Weiß solche nicht alle zu nennen. Aber die, die meine ganze Zärtlichkeit rege machten, deren Namen vergaß ich nicht: Es war die Frau Hofrätin Langin mit ihrem Gemahl, ein paar alte, so ehrwürdige Personen. »Wo ist meine Schulze?« mit den Worten trat sie in den Saal. – »Nun, da ist sie!« »Weg, alle weg, ihr habt sie nun lange genug gehabt, nun muß ich sie auch haben!« Da fiel sie mir um den Hals, küßte mich und drückte mich an ihre Brust. Nun setzte sie sich mir zur rechten, ihr Gemahl zur linken Seite. Jeder von ihnen hielt eine meiner Hände in die ihrigen geschlossen. »Daß Sie als ein junges, hübsches Mädchen allen jungen Leuten gefallen mußten, das war keine Kunst bei Ihren Talenten. Aber so, wie meinen Mann und mich in Sie verliebt zu machen, dazu gehört mehr. Wir sahen Sie nicht allein mit tausend Freuden gern agieren und tanzen; nein, wir lieben und schätzen Sie besonders Ihrer vortrefflichen Aufführung, Ihres edlen Charakters wegen, und das mußte ich Ihnen sagen, und wenn's noch später in der Nacht gewesen wäre. Allgemeine Hochachtung nehmen Sie mit sich aus Leipzig von Jungen und Alten, von Kindern wie von Greisen. Wir weinen ja alle um Sie. Aber sollen wir nicht weinen? Haben noch keine Schulze gehabt und bekommen keine wieder.« Reden konnte ich nicht. Ich lag an ihrem Busen und weinte Tränen des Dankes. Es wurde allgemeine Stille, denn jeder hatte Tränen, nicht Worte. Herr Professor Clodius überreichte mir ein Blatt, das ein Epigramm auf meinen Abschied war und das er hatte drucken lassen; das enthielt die Worte:[283]


»An Mademoiselle Karoline Schulze, den 24. Februar 1768.


O Freundin, mit dem Reiz Melpomenes geschmückt,

Nie hörst du auf, das Herz zu rühren.

Jüngst weinten wir, von deiner Kunst entzückt,

Jetzt weinen wir, dich zu verlieren.«


Ich konnte nicht mehr länger am Tisch bleiben, sprang auf in der äußersten Bewegung. »Sie töten mich durch Ihre Güte.« Tief in mich selbst gehüllt, saß ich da, ich wußte kaum mehr, was vorging; endlich brachte man mich wieder an die Tafel, und ich bat alle, bei der Liebe, die sie gegen mich hätten, nun nichts mehr von Abschied zu sprechen. Man willigte ein. Man trank meines Liebsten Gesundheit. Nun wollte die liebe Frau Hofrätin noch recht viel von meinem Bräutigam wissen. »Verdient denn auch Herr Kummerfeld unsere liebe Schulze?« »Liebe Frau Hofrätin! Das Zeugnis einer Braut ist verdächtig. Einer Braut wie ich, freie Wahl, ohne Zwang noch Zureden, Wahl, alleinige Wahl des Herzens! Ich kann mich nur hier auf die Gegenwärtigen, die meinen Kummerfeld kennen, berufen. Hier ist Herr und Madame Winkler. Herr Kreuchauf und vielleicht noch mehr, die mein Kummerfeld die Ehre hat von Ihnen gekannt zu sein.« Ja, nun stimmten solche mit ein, lobten meine Wahl, welch glückliche Frau ich bei solch einem Manne werden müßte. »Nun, Gottlob,« sagte der gute Hofrat und seine Gattin, »Gottlob. Wenn aber auch so ein Mädchen nicht glücklich sein sollte!« Das Gespräch sollte zwar munter werden, aber an Fröhlichkeit, die sonst bei Festen herrscht, war freilich den Abend nicht zu denken. Denn sowie einer nach dem anderen Abschied nahm, so war Stillstand des Scherzes.

Die Uhr war schon nach zwei, als ich sagte: »Es muß sein. Leben Sie alle wohl!« Die gute Hofrätin, ihr Herr und alle übrigen sagten wenig mehr, ich umarmte alle mit Tränen, und sprachlos ging ich fort und ließ mich nach Hause tragen. Eine große Anzahl von den Herren waren meinem Sessel gefolgt und begleiteten mit meinem Bruder solchen. Sollte noch einen Sturm auf mein Herz vor meinem Hause[284] aushalten. – Es schien, als ob es ihnen unmöglich wäre, mich nun auf immer zu verlieren; man schrie und schluchzte. Ich versprach ihnen, daß, wenn ich's möglich machen könnte, ich in ein oder mehr Jahren gewiß mit meinem Liebsten nach Leipzig zum Besuch kommen werde. Dieses hatte ich schon einmal an der Tafel versprochen und gesagt, mein Kummerfeld sollte sich als mein Ehemann noch bedanken für die Liebe und Ehre, die man seiner Frau a Braut bezeigt hätte. Nun verließen sie mich, und ich ging mit Karl nach unserm Zimmer. Wir sprachen beide nichts, und er ging mit einem stummen Kuß, den er mir gab, zu Bett. Ich packte nun vollends alles ein, um den Morgen nichts mehr zu tun zu haben. Warf mich auf mein Bett im Reisekleid; schlafen konnte ich nicht.

Gegen 5 Uhr weckte ich meinen Bruder, halb 6 Uhr kam noch der größte Teil von der Gesellschaft und wollte mich abfahren sehen, so auch noch Herr Professor Clodius, Herr Torchiane, ein italienischer Kaufmann, er mir viele Freundschaft erwiesen, mir viele Dienste geleistet, ja, noch zuletzt alles zum Transport der Koffer besorgt hatte. Gegen 6 Uhr kam mein Wagen. »Kinder, um Gottes willen, schont mich, bleibt ruhig! Lebt, lebt, wohl!« Ich küßte alle, riß mich aus ihren Armen und warf mich in den Wagen. Durch die Straßen, wo ich durchfuhr, lag alles in den Fenstern und rief mir noch »Glückliche Reise!« nach. Ich hatte die Gläser vom Wagen auf beiden Seiten niedergelassen und sah von einem zum andern hinaus. Herr Brückner und mein Bruder begleiteten mich zu Pferde; ich hatte einen alten, treuen Markthelfer, mit Namen Christian, gedungen, der mir unterwegs zur Aufwartung sein sollte, nebst dem Kutscher und seinem Knecht als Vorreiter; denn ich fuhr mit 6 Pferden. Kein Wunder, daß alles, was ja noch hätte schlafen können, von dem Gerassel wach wurde. So verließ ich den 24. Februar mein geliebtes Leipzig, und – soll ich's vorher sagen? Nein, nichts vorher! Gott segne noch an den spätesten Enkeln und vergelte an diesen die Liebe, die Güte, so ihre Voreltern mir[285] erwiesen ich kann nichts als dankbar an sie denken, und werde sie segnen noch in der letzte Stunde meines Lebens.

Ein unbekannter Herr Beier, der behauptet, sie Ackermann von der Schweiz her zu kennen, hat verschiedentlich in der zudringlichsten Weise aufgefordert, mit ihm in einem Wagen nach Hamburg zu reisen. Unterwegs wird er in einem Wirtshaus äußerst lästig. Doch wird er von Karoline so kräftig abgefertigt und verhöhnt, daß es selbst ihrem Bruder Karl peinlich wird. Uebrigens behält sie recht damit, daß sein großer, grünseidener Geldbeutel, mit dem er so gewichtig auf den Tisch schlägt, wohl kleine Steine und Zahlpfennige enthielte und daß er ein Spieler sei.

Nach ihre Verabschiedung von Bruder und Freund setzt sie ihre Reise in einer Art Betäubung, aber doch in der angenehmsten Weise versorgt, z.B. durch ihre Lieben mit 6 Flaschen guten Weins, nach Braunschweig fort. Dort kommt sie am 28. an, um einige Tage zu bleiben. Fleischers und Hauptmann sind darüber glücklich.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 276-286.
Lizenz:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon