Hochzeit.

[4] Auch jetzt zeigt sie ihren sparsamen, vernünftigen Sinn. Am Tage der Vermählung, die auf den 12. April, den ersten Dienstag nach Ostern, festgesetzt ist, soll sie nach ihres Bräutigams Willen recht reich geschmückt sein. Ihren einfachen Goldreif soll sie mit einem Juwelenring vertauschen. Anders wäre es für ihn[4] ein Schimpf. Sie gibt soweit nach, daß um ihren Ring eine Reihe Rosetten herumgesetzt werden. In Hamburg liehen sich damals oft Bräute für den Hochzeitstag echten Schmuck von Juwelieren. Dergleichen widerstrebt aber Karolinens reellem Wesen völlig: In schottischen Perlen wird ihr Schmuck bestehen; sie wird nicht in geborgtem Schmuck prangen. In Hamburg ist sehr teuer Hochzeit machen. Was bekommen allein die Dienstboten an Trinkgeldern!

Viel macht ihr Wilhelms verändertes Betragen zu schaffen. 14 Tage vor der Hochzeit sitzt sie einmal wieder in stillem Nachdenken in ihrem Zimmer, den Kopf in ihre Hand gestützt, Tränen rollen ihr über den Arm. Da tritt ihr Bräutigam herein. Sie vermag ihre Betrübnis nicht hinter einem munteren Lächeln zu verbergen. Sie muß ihn fragen, warum sein Verhalten, sogar sein Kuß Kälte und Zwang verrate. Bereue er die Verlobung, so gebe sie ihn gern frei. Sie liebe ihn innig. Aber der Mann ihres Herzens müsse auch sie lieben, stark lieben, lieben wie sie ihn. Sonst werde sie das elendeste von allen Weibern. Sie sei nichts halb. Sie war ganz Tochter, ganz Schwester, ganz Freundin, ganz Liebhaberin und müsse ganz Gattin werden können. Kummerfeld beruhigt sie, sein Linchen sei ihm alles auf der Welt, was er habe. Ihm sind die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die zeremoniösen Komplimente und die Beeinträchtigungen der ihm so notwendigen Nachtruhe lästig und verdrießlich. Die beiden küssen sich, söhnen sich aus und gehen Hand in Hand die Treppe hinunter.

Ach, man beruhigt sich so leicht über das, was man wünscht. Inzwischen leugne ich es nicht, daß mir selbst alle die steifen Besuche schon zum Ekel geworden waren. Niemand kannte ich genau. Wurde ich denn mit allem nur erdenklichen Zeremoniell in ein neues Haus eingeführt, da standen obenan zwei große Armstühle. In die durfte sich keine alte würdige Matrone oder Greis setzen. Nein, die gehörten für das Brautpaar. Wie oft raunte ich Wilhelm ins Ohr: »Hat der Teufel da schon wieder so ein paar Stühle!« und wenn man dann nachdachte: Heute sitzt du obenan, und den Tag nach der Hochzeit als die jüngste Frau ganz unten – das stimmte mit meinen Gesinnungen so wenig überein. Ich, die ich lieber stieg als fiel, oder doch gern in einer gewissen Mitte blieb, wo man nicht steigt noch fällt.

Am 11. April wird ihr Haar vom Friseur in Papilloten gewickelt. Ihr Wilhelmichen kommt munter herein und will ihren Putz sehen. Er ist befriedigt, findet ihn nicht prächtig aber geschmackvoll.[5] Gespart ist auch nichts, über 200 Ellen Blonden sind verwandt. Noch hat er 24 Stunden Bedenkzeit. »Lieber Wilhelm, wie deine Karoline das einzige Mädchen ist, so will sie so gern auch das einzige glückselige Weib sein.«

In der Nacht wirft sie sich in unruhvollen Gedanken von einer Seite auf die andere. Vielleicht soll mit dem morgenden Tag all ihre Freude ein Ende haben. Sie denkt über Wilhelms Charakter nach und wie sie ihn behandeln, wie nachgeben, wie zuvorkommen müsse, damit er sie unaussprechlich lieb habe. Sie wollte verdrießliche Bilder wegwischen, aber sie waren immer wieder vor ihr.

Ich schlummerte ein wenig ein, aber mein Schlaf war nichts weniger wie erquickend gewesen. Die Uhr war halb 6 Uhr, als ich aufstand. Ich erschrak vor mir selbst, als ich in den Spiegel sah. Mein ganzes Gesicht hatte eine Todesblässe. Gleich nach 6 Uhr kam der Friseur, kam deswegen so zeitig, weil er den Tag mehr Bräute aufzusetzen hatte. Ich ließ in die Haare Myrten mit ihren Blüten hineinstecken. Weil damals in Hamburg nicht mehr Mode war, daß Bräute einen Kranz oder eine Krone auf dem Kopf trugen, so wählte ich bloß einzelne Myrten und Perlen, durchflochten. Wir speisten den Mittag vor 12 Uhr; aber wie ich mich hingesetzt hatte, stand ich auf. Ich konnte nicht essen und war in einer schrecklichen Angst. Die gute Madame Herzog kam und brachte mir einen kleinen frischen Blumenstrauß, bestand in einer weißen Hyazinthe, Orangenblüten, Myrten und einer Rose. Ich küßte das gute Weib. »Was ist dir, Jungfer Braut?«

Sie sieht aus wie der Tod. Die weiblichen Hausbewohner vermehren mit ihrer Hilfsbereitschaft nur ihre Angst. Die Nachbarschaft wünscht sie zu sehen. Sie soll warten, bis sie in den Wagen steigt. Sie will sich heute nicht zum Opfer der närrischen Gebräuche des Ortes machen lassen.

Hab schon mehr solche Stückchens gemacht. Man muß mich gewohnt werden. Am Ende wird's heißen: »Es ist die Kummerfeld, sie tut's nicht anders,« so wie es bisher geheißen hat: »Es ist die Schulzin, sie ist nun nicht anders.« Denke, was man mich hier schon mit den vielen Gesundheiten mortifiziert hat, und wie sie sich selbst untereinander mortifizieren. Weißt du, was ich tue? Dem Wirt und der Wirtin vom Hause trinke ich ihre. Dann bin ich fertig. Sagt jemand zu mir: »Sie sollen leben,« nehme ich mein Glas in[6] die Hand und sage: »Gleichfalls, Ihr Wohlsein!« Wo kann ich dreißig und mehr Menschen bei einem Glase Wein nennen. Immer einen Tropfen hinunterschlucken und wieder einen nennen, bis die Reihe rum ist? Da bricht mir der Angstschweiß aus, und dann soll ich meinen Nachbar 30 mal inkommodieren, daß er mir sagt, wie der und der heißt. Und wenn es noch dabei bliebe, aber trinkt man meines Wilhelms Gesundheit, so muß ich mich mitbedanken; denn so geht's: »Mademoiselle Braut, ich nehme mir die Ehre, Ihre Gesundheit zu trinken. Herr Bräutigam, ich trinke Ihrer Mademoiselle Braut ihre Gesundheit.« Nun trinkt der höfliche Mensch, und wenn er getrunken und sein Glas hingesetzt hat, muß ich das meinige nehmen und mich gegen ihn und meinen Herrn Bräutigam verneigen mit dem Kopf und halben Leib und nun gleichfalls trinken. Wenn das vorbei ist, sagt der höfliche Mensch: »Herr Bräutigam, ich nehme mir die Ehre, Ihr Wohlsein zu trinken, Mademoiselle Braut, ich trinke des Herrn Bräutigams Gesundheit,« und trinke ich mit ihm, und wenn wir fertig sind, muß sich Wilhelm gegen uns beide verneigen und nachtrinken. Ist das nicht zum Totschießen? Nun denke dir, wenn dreißig und mehr Menschen an der Tafel sind, was das für eine Arbeit ist! Und ich, deine Karoline, sollte sich so sehr hassen, all das närrische Zeug auf ihre ganze Lebzeit mitzumachen? Nein, wahrlich nicht! Lieber soll man mich jetzt entweder für unwissend oder für ein Mädchen ohne Lebensart halten; als daß man sagt: »Sie hat sich die erste Zeit verstellt.« Denn freilich sehen viele die Lebensart und den Verstand nur darin, wenn man sich hübsch steif verneigen, Komplimente machen und Gesundheiten trinken kann. Denke, was mir das für ein wahres Spektakel ist, wenn Mann und Frau, Tochter und Sohn am Tische mit sind, und so ein höflicher Mensch fängt an: »Madame« (sie mag Hamburg heißen), also: »Madame Hamburg, ich nehme mir die Ehre, Ihr Wohl sein zu trinken. Herr Hamburg, ich trinke Madame ihre Gesundheit. Mademoiselle, ich trinke der Frau Mama ihre Gesundheit. Monsieur Hamburg, ich trinke der Frau Mama ihre Gesundheit.« Nun trinkt er, dann geht's an den Herrn Papa, dann ebenso an Madames Tochter und Herrn[7] Sohn, bis es in der Familie rund ist. Habe nach meiner Uhr gesehen, und solche vier Gesundheiten haben eine halbe Stunde gedauert. »Daß du des Teufels wirst!« sagte ich dann zu Wilhelm, »das ist nicht auszuhalten.« »Nein, Linchen, da waren wir vergnügter, und wollen's, will's Gott, noch öfter sein.«

Unten stand der Bräutigam im aschgrauen Seiden-Moiré-Kleid mit kleinen weißen Blümchen; die Weste war ganz weißer Moiré mit silbernen Tressen. Er war so blaß von Gesicht, wie sie zitterte. Er reichte ihr seine eiskalte Hand, sie fühlte die Kälte durch seine Handschuhe. Die ganze Straße war voll Menschen, und an allen Fenstern war Kopf an Kopf. Sie grüßte sie alle rund, so weit sie sie mit den Augen erreichen konnte und erntete damit das Lob, sie sei eine freundliche, gar nicht stolze Braut. Der Wagen fuhr ganz langsam, so recht staatsmäßig, und die beiden hatten sich viel zu bücken und zu danken nach allen Seiten. Die Trauung geschah im Hause ihres Bräutigams durch den Pastor Wagner vom Hamburger Berg. Da sie im Michaeli-Kirchspiel gewohnt hatte, hätte sie dessen Prediger trauen müssen. Aber sie hatte sich den Geistlichen wählen dürfen. Gleich der erste, dessen Predigt sie aufgesucht, hatte ihr gefallen. Freilich nahm's der H. Hauptpastor an der Michaeliskirche übel. Aber das kümmerte das Paar nicht. Er bekam seinen holländischen Dukaten. Aber Wagner mußte die Trauung vornehmen. Der rechtschaffene, bald danach gestorbene Mann legte seiner herrlichen Predigt den Text zugrunde: »Prediget denen Gerechten; denn sie werden es wohl haben.« Als alles vorbei war, wurde der Kaffee, Tee, Wein und Konfekt herumpräsentiert, dann um fünf Uhr der H. Pastor in dem Brautwagen wieder nach seiner Wohnung gebracht. Die Herren Brüder und Schwäger begaben sich nach der Deichstraße, wo bei Wilhelms Bruder Heinrich das Hochzeitsmahl stattfand. Da der Brautwagen gar so lange auf sich warten ließ, benutzte das sehr befangene, mäuschenstille Paar eine gewöhnliche Mietskutsche zur Fahrt dahin. Die Gesellschaft bestand aus 20 Personen. Die Herren verloren sich zunächst zu ihrem Kartenspiel. Karoline fand sich allein mit Mad. Schwerdtner, der unangenehmsten unter ihren neuen Verwandten.

Die 8 Herren spielten ihr Quatrillio, und wenn's der liebe Gott nicht besser weiß, was ich mit Madame Schwerdtner von 6 Uhr bis halb 10 Uhr gesprochen habe, so kann ich gewiß nichts dafür. In diesen viertehalb Stunden war mein Bräutigam ungefähr zweimal in die Stube gekommen, hatte meine Hand gefaßt, solche geküßt und mich gefragt: »Nun, was machst du denn?« »Wir schwatzen.« »Hast recht,« und[8] so ging er wieder fort, nachdem er vorher noch als eine Vorsorge gesagt hatte: »Laßt euch die Zeit nicht lang werden!« Das geschah also zweimal, und so akkurat, als ob's mein Bräutigam auswendig gelernt hätte. Ich dachte zu zerspringen. Das ist ein Hochzeitsabend! Oft stieg der Gedanke, »oh wärest du in Leipzig« in meiner Seele auf, und gleich wieder bebte ich vor dem Gedanken zurück, wie vor einer Todsünde. Vergib, Herr, vergib, und verleihe mir Geduld! Endlich kam eine von den Demoiselles von Bostel und frug, ob's gefällig wäre? Man schloß also die Spiele ab, und jeder erhob sich, nicht zu vergessen, daß Herr Abendroth sich einmal unter dem Spiel umsah und frug: »Wo ist denn meine Frau?« War aber niemand zugegen, der ihm hätte Rede und Antwort erteilen können. Da es dann hieß: »Nun zur Tafel,« wendete sich Hinrich sehr leutselig zu mir und sagte: »Müssen so vorlieb nehmen, ma soeur.« Ich dankte ihm für seine Güte, denn noch nie hat es mir geschienen, daß mir Hinrich so einen freundlichen Blick gegeben hatte, und das war Balsam für mein krankes Herz. Der Herr Bräutigam kam denn auch und reichte mir die Hand, ich tat mir sehr viel Gewalt an, lustig zu sein, ja ich schäkerte sogar und lief mehr, als ich ging, nach dem Saal zu. »Kommen Sie, lieber Wilhelm, ich bin recht hungrig, habe alles für heute abend verspart.«

Aber Himmel, sowie ich in den Saal hineintrat und der Frauenzimmer ansichtig wurde, war ich doch mit einem Male so satt, als wenn mir 10 Pfund hartes Rindfleisch im Magen lägen. Das waren Gesichter! Alle wollten freundlich sein, und keine war's. Einige sahen blaßgelb aus wie holländischer Käse. Andere glühten braunrot, einige Gesichter waren gestreift. Ich glaubte, daß ein böser Dämon alle verzaubert hätte. Wie ich geworden, mag der Himmel wissen. Doch neue Farben konnte den Tag mein Gesicht wohl nicht mehr annehmen, denn es hatte solches den ganzen Tag über alle Schattierungen durchgemacht. Die meisten Augen hatten geweint, viel geweint, das konnte ich sehen, aber warum? Weswegen? Das blieb mir auch bei allem möglichen Nachsinnen ein unerklärbares Rätsel. Bei Tische hoffte ich, vielleicht es aufzulösen. Hinrich ließ viel und kräftig auftragen, aber ich[9] will des Todes sein, weiß ich, was ich den Tag gegessen habe. Man wollte gerne munter werden, aber alles war versteinert. Mein Bräutigam küßte mir oft mit vieler zärtlicher Ehrerbietung die Hand, sah mir freundlich in die Augen und sagte: »Oh, wie ich dich liebe! Bist mein alles.« Das fühlte ich warm ans Herz klingen, blickte seitwärts und wurde gewahr, daß Madame Abendroth Tränen verbergen wollte, die so voll in ihren Augen waren. Doch trank sie solche in einem Glas Wein, vermengt mit Wasser, ganz langsam in ihren Magen. Ihr Mann blickte sie einigemal an mit einem Gesicht, das viel sagte, nur nichts, das angenehm gewesen wäre, anzuhören. Darauf lächelte sie, und es war ein Lächeln wie das eines Kindes, das man blutig gehauen, und nun verlangt, es solle mit Lächeln die Rute küssen, die ihm so weh getan. Ich wußte nicht, sollte ich wünschen: ach, wärst du schon in deinem Haus, oder nicht. Kurz, dessen bin ich gewiß, daß ich an solche hochzeitliche Empfindung gewiß nie gedacht, noch sie mir hätte so vorstellen können. Endlich war die Glocke nach halb 1 Uhr, und es wurde gemeldet, daß unser Wagen vorgefahren wäre. Nun wurde es laut, ich fühlte von allem nichts, was mir gesagt wurde, teils im Scherz, teils im Ernst. Madame Fritsch sagte zu mir: »Nach dem hiesigen Gebrauch müßte ich Sie nach Hause bringen und auskleiden. Wollen Sie es, so fahre ich gerne mit, aber ich weiß, Sie lieben die Zeremonien nicht.« »Tausend Dank, liebe Frau Schwester, haben meinetwegen Unruhe genug gehabt. Sie kennen mich und wissen, wie unangenehm mir alles ist, was meine Freunde inkommodiert. Werde mich mit Hilfe des Mädchens schon allein auskleiden.« Ich umarmte alle Frauenzimmer; jedes sah heiterer, und jedes drückte mir zärtlich die Hand, selbst Madame Schwerdtner war artig, und ihre Tochter zwang sich, artig zu scheinen. Hinrich küßte mir die Hand, nachdem ich auch den Herren mein Kompliment gemacht hatte, worunter der Onkel und Peter von Bostel mich herzlich geküßt hatten. Darauf küßte mich Hinrich und sagte: »Liebe Schwester, ich versichere Sie meiner ganzen Freundschaft und Achtung, Gott gebe, daß Sie so glücklich mit meinem Bruder sein mögen, wie Sie es verdienen. Künftigen Donnerstag[10] erzeigen Sie mir die Ehre und kommen mit meinem Bruder den Nachmittag zu mir; da wollen wir die übrigen Brocken von den heutigen verzehren.« Nun hob er mich in den Wagen, indem er mir noch Hand und Mund küßte. Mein Wilhelm und er fielen einander um den Hals und küßten sich. »Hör', Bruder,« sagte Hinrich, »ich habe deiner Braut gesagt, daß du mit ihr Donnerstag abend hier bei mir sein sollst.« »Wir werden kommen,« sagten wir beide. »Gute Nacht!« Und nun rollte der Wagen mit uns fort. Wir saßen alle beide stumm da. Der Weg, den wir beide nach unserm Haus auf der kleinen Drehbahn hatten, war weit. Endlich faßte mein Bräutigam mit seiner Hand nach der meinen und sagte: »Du bist ja so still!« »Was ich bin, weiß ich selbst nicht. Ist's wirklich so, oder ist's ein Irrtum? Bin ich heute wirklich verheiratet worden oder spiele ich nur eine Komödie? Gott weiß es, ich nicht, wie mir ist.« »Nein, ist keine Komödie, bist von heute an meine Frau.« »Mir ist nicht so,« sagte ich, und damit war unser Gespräch am Ende. Mein Wilhelm behielt meine Hand fest in die seine geschlossen, und so kamen wir, ohne ein Wort weiter gesprochen zu haben, in unserm Haus an.

Das Mädchen kam mit Licht, öffnete den Wagen, »Guten Abend, Madame!« Mit auflachendem Ton dankte ich ein »Guten Abend!« her und dachte: Die Närrin! Madame! Mich verdroß das Wort, als wenn sie mich geschimpft hätte. Im Augenblick besann ich mich und dachte: Bist du nicht selbst eine Närrin, wird dich nicht von morgen an jeder »Madame« nennen. Ich kam in mein Zimmer und legte die mürrische Miene schon vor der Stubentür ab. Sie kleidete mich aus, und ich legte mein weißes Nachtkleid an, alles gebunden mit blauen Schleifen, kroch in meine blauatlassenen Pantöffelchen und wickelte mich in ein weißes Musselinen-Salopp. Drei kleine Zimmer gingen in eins herum. Mein Mädchen frug mich, ob ich noch etwas zu befehlen hätte, ich sagte »Nein«; sie solle aber erst ihren Herrn fragen, ob dem noch was gefällig wäre. Sie tat's, und ich hörte ein »Nein!« Nun wünschte sie mir recht schelmisch eine angenehme Ruhe, doch las ich den Wunsch in ihrer Seele: »Ach, wer's doch auch schon so gut hätte!« Hätt's ihr gern gegönnt, alle die Freuden, selbst die,[11] die noch kommen sollten, wäre ich so weit aus Hamburg gewesen, als ich da war. Das Mädchen war eine Jungfer in den dreißiger Jahren und hatte auch einen Bräutigam, der ein Grönlandfahrer war.

Ich nahm das Licht und ging ins Nebenzimmer, setzte mich in einen Lehnstuhl an den Tisch. Wenige Augenblicke darauf kam mein Wilhelm und setzte sich gleichfalls in einen Lehnstuhl mir gegenüber an den Tisch. Die Uhr hatte bereits längst eins geschlagen. Erst war zwischen uns beiden eine lange Pause. Nun faltete Kummerfeld die Hände wie zum Gebet, schlug die Augen, voll von Tränen, in die Höhe und rief mit einer Stimme, die meine ganze Seele erschütterte, aus: »Bin ich nicht der unglücklichste Mann? O mein Gott, mein Gott. Wo soll ich Ruhe finden?! Nein, für mich ist keine Ruhe mehr. Mein Gott, wie hast du mich gestraft, für mich ist alles aus. Keine Freude, keine Glückseligkeit mehr auf dieser Welt, ich bin der Elendeste von allen Menschen, wo soll ich Ruhe suchen?! Wo finden?! Mein Gott, mein Gott, erbarme dich meiner!« Wäre ich in meinem Leben zu Ohnmachten geneigt gewesen, gewiß wäre ich in solche gesunken. Hätte auch darin sterben können, mein Bräutigam wär's nicht gewahr geworden. Einigemal machte ich einen Versuch, zu reden oder aufzustehen, aber ich konnte eins so wenig, wie das andere. Das weiß ich, daß mir die Zunge ganz dick im Munde schien, der Hals wie zugeschnürt, das Herz zum Springen, und daß sich alles wie ein Kreisel in meinem Kopf herumdrehte. Kalt ward mir, wie der Tod selbst nicht kälter sein kann. Wie lange mein Wilhelm so fortdeklamiert hat, weiß ich auch nicht. Er hätte für mich und ich für ihn sterben können, und, ich glaube, wir hätten uns verwundert, uns so mit einemmal ins Jenseits versetzt zu sehen. Wenn wir so gestorben wären, hätte ich wohl wissen mögen, was man gesagt hätte, das die Ursache unseres Todes war. Doch Gott wollte es nicht und hatte mich noch zu mehreren Auftritten des Lebens vorbehalten. Er gab mir mit Macht endlich Tränen, die größte Wohltat der Menschen. Ich weinte, weinte so laut, daß ich schluchzte, aber mein Kummerfeld, der von Herzen auch weinte und schluchzte, blieb dabei,[12] daß er nie wieder glücklich sein würde. Natürlich, daß mir mein lange herumgeschleppter Zweifel wieder in den Sinn kam und ich nun anfing: »Aber Kummerfeld, was habe ich Ihnen noch gestern morgen gesagt? Das ist das Wort zu weit getrieben. Warum entließen Sie mich nicht Ihres und meines Wortes? Warum mußten wir heute getraut werden? So soll denn Hamburg mir zum Fluch bleiben, so soll ich hier elend sein! Gott! Gott! so laß mich nicht verzweifeln! Was habe ich Ihnen getan? Konnten wir nicht Freunde bleiben, warum Liebende? Warum Trauung? Was habe ich Ihnen getan? Warum hassen Sie mich?« Das Wort weckte ihn, denn es schien, als ob er alles andere nicht gehört hätte. »Ach Gott, nein, ich dich hassen, ich liebe dich unaussprechlich.« »Sie lieben mich, und dann so ein Betragen?! Heute, heute! Was ist Ihnen? Um Gotteswillen, beruhigen Sie mich! Wodurch habe ich Ihr Zutrauen verloren? Gegen wen wollen Sie Zutrauen haben, wenn ich nicht die Vertraute all Ihres Kummers sein soll?« »Bleib ruhig, dich geht es ja nicht an; nur ich bin der unglücklichste Mann, der nie mehr eine ruhige Stunde haben wird.« »Das machen Sie gut! Ich soll ruhig sein, wenn Sie selbst sagen, daß für Sie keine ruhige Stunde mehr auf der Welt ist?! Sagen Sie mir, wie Sie solches nur denken können! Heute ist was vorgefallen, aber was?«

Schließlich bekommt sie mit viel Mühe heraus, daß nicht sie die Ursache seines Kummers ist, sondern daß ihn die üble Behandlung seiner Schwester durch Abendroth so betrübt. Er hat diese junge Ehe mit auf dem Gewissen. Das Gespräch dauert bis zum Morgengrauen um vier Uhr, wo dann die vor Kälte mit den Zähnen klappernde Karoline endlich zu Bett gehen kann. Am nächsten Morgen nach 9 Uhr kommen Bediente und Mädchen von allen Verwandten, sich nach dem Befinden des Paares zu erkundigen. Jeden fertigt sie selbst ab, sie ließen danken und sie befänden sich recht sehr wohl. Ferner kommen einige Bekannte ihres Mannes zum Besuch. Sie scherzen, Karoline scherzt mit, und ihr Männchen ist über alle Maßen vergnügt. In Wahrheit hält sich die Liebe des temperamentlosen Kummerfeld bei aller Freundlichkeit auf lange hinaus mehr in Schranken, als jemand ahnen kann und darf. Sie berichtet darüber mit einer Art Galgenhumor, und, als er auch bald schon in seiner Ritterlichkeit nachläßt, mit bitterem Weh. Der leidenschaftliche Dalwig von einstens ist gerächt.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 4-13.
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