Linz.

[115] Den 20. kamen wir in Linz an. Die Gesellschaft wurde 22 Personen stark. Herr Borchers gab sich sehr viele Mühe, daß mit der Zeit ein gutes Ganzes daraus werden möchte. Wie sehr wünschte ich es mit. Madame Prottecke, eine Schauspielerin und Figurantin, war ihrer Entbindung nahe, und eine Tänzerin war noch nicht eingetreten. Das erste Ballett sollte groß sein; ich wurde von dem Ballettmeister, Herrn Simoni, ersucht, mit zu figurieren, denn man sagte, es wären nur vier Frauenzimmer, die fünfte nur ein kleines Kind, das nicht gerechnet werden könnte. Was tat ich nicht von jeher für's Ganze! Weder zum Tanzen, noch zum Figurieren kam mir in den Sinn, mich zu engagieren. Ich sagte also nur aus Gefälligkeit ja, doch mit dem Bedinge: nur in großen Balletten; und wenn Madame Prottecke wieder aus den Wochen käme, dann hörte die Gefälligkeit ganz auf. –[115] Wir kamen zur Tanzprobe, und das ganz kleine Kind war ein Mädchen von 10 bis 11 Jahren, das sehr gut figurierte und schon kleine Solos tanzte. Das hätte ich wissen sollen. Doch ich schwieg still. Im zweiten Ballett ließ man Demoiselle Ruphofer frei. Im dritten blieb Madame Simoni weg. Ich sollte figurieren und war nicht dafür engagiert. Die zwo Damen spielten nur dann und wann kleine Rollen mit. Da machten sie es mir zu grob, und ich bedankte mich für die Ehre. So wird der gute Wille und die Höflichkeit gemißbraucht. Ich war keine Tänzerin mehr, würde ohne Widerrede in großen Balletten mit figuriert haben, aber foppen ließ ich mich nicht. Und zudem litt meine Brust zu stark, weil ich nicht selten Blut auswarf. Ich mußte mich in acht nehmen. Ich ersuchte also mit aller Höflichkeit die Herren Ballettmeister Simoni und Herscheldt, einige Ballette zu machen, wo ich frei wäre; denn wenn erst die Komödie anfing, würde ich nach einer großen Rolle gar nicht tanzen. Wäre Madame Prottecke aus den Wochen und Madame Maraskelli erst da, ginge ich ganz heraus. Herr Borchers konnte mir nicht unrecht geben und gestand ein, es wäre impertinent, ja, daß er es sich nicht unterstanden, mir zuzumuten. Und da ich so gut war, machten die Herren eine Schuldigkeit daraus.

Den ersten April wurde angefangen mit dem »Deutschen Hausvater«; man war zufrieden, und das Stück ging gut. Mad. Prottecke spielte den 28. Mai zum ersten Male mit, und ich hörte auf, zu figurieren. Auch kam Madame Maraskelli, spielte den 13. August zum ersten Male; sie war eine sehr gute Tänzerin und vortrefflich von Wuchs. Herrn Borchers wurde es sehr sauer gemacht. Schadlos konnte ihn nichts halten als seine Gage. Solch einen Wirrwarr konnte man sich gar nicht denken. Da war's in Innsbruck goldene Zeit. Es müssen vorher schreckliche Menschen und zum Teil wahres Gesindel darunter gewesen sein. Das sah man an dem Respekt der Theaterleute und Statisten. Wenn Herr Borchers mit dem Herrn Grafen von Stücken sprach, die gegeben werden sollten, stellte sich der alte Theatermeister – Thomerle hieß er – zu ihnen hin, mit der Mütze auf dem[116] Kopf, und sagte: »Na schauen's. Dös missen's nit geben. Dös bringt ka Gäld ein.« Er nannte Stücke. Die Statisten tranken in unserer Garderobe Bier und spaßten ziemlich laut untereinander. Wer an nichts teilnahm, hieß stolz. Nie habe ich gedacht, daß Schauspieler so gemein sein könnten. Nicht alle waren so; saßen an ihren Tischen so still wie ich. Herr Borchers und ich sahen uns nur zuweilen an und hatten wohl einerlei Gedanken.

Was für einen Ekel bekam ich nun noch mehr und mehr vor dem Theaterleben! Wie konnte mich der Beifall freuen, den ich hatte? Denn ohne Eigenliebe zu mir selbst, war ich in meiner Kunst als Kummerfeld mehr, als da ich noch Schulzen war. Herr Borchers weiß es vielleicht nicht, daß ich wieder erfahren, was er hinter meinem Rücken gesprochen. Den 16. Mai wurde der »Sekretär« gegeben, bearbeitet von Gotter. Ich spielte die Julie. Man sagte zu Herrn Borchers: »Wie hat die Kummerfeld schön gespielt!« »Schön?! So habe ich nie spielen sehen. So hat vor ihr hier gewiß noch keine Schauspielerin gespielt, und so wird nach ihr keine hier wieder spielen. Ich habe die Rolle von Madame Seyler und der älteren Mademoiselle Ackermann, unstreitig zwei unserer besten Schauspielerinnen, spielen sehen. Aber so, wie sie die Kummerfeld durchdacht, wie sie sie ausgearbeitet, wie sie sie gespielt, das haben beide nicht.«

Im »Französischen Hausvater« spielte ich die Cecilie. Herr Borchers sah mich an und sagte: »Kummerfeld, was machen Sie aus der Rolle! Sie haben solche zu einer Debütrolle gemacht und können mit solcher auf dem größten Theater debütieren.« »Es freut mich, Herr Borchers, wenn Sie das sagen.« Und hatten nicht die Schauspielerinnen unrecht, die sie nicht gern spielten, weil sie glaubten, die Sophie sei besser? Mir ist – für Kenner – die Cecilie lieber. »Minna von Barnhelm« war ein altes Stück; ich machte es zu einem neuen. Denn laut wurde gesagt: »Heute sahen wir das Stück zum ersten Male.« Im »Schmuck« – ich spielte die Franziska –, sagten Mademoiselle Haller und mehrere von der Gesellschaft: »Heute spielen wir nicht, können nicht spielen, wir sehen der Kummerfeld ihrem Spiel zu.«[117]

Und nie, nie hatte ich mit Herrn Borchers nur ein Mißverständnis, noch viel weniger einen Streit. Um ihm keinen Verdruß zu machen, nahm ich manche Rolle, die schlechter war als die, die ich bereits in Innsbruck in eben und demselben Stück gespielt, wenn er sagte: »Die und die will die Rolle machen. Ich gäbe sie lieber Ihnen.« Da sagte ich: »Geben Sie sie ihr!« Dann machte sich auch wohl Herr Borchers in dem Stück frei oder nahm eine Nebenrolle.

Nur ein einziges Mal widersetzte ich mich, eine Rolle zu spielen, und spielte sie auch nicht. Herr Borchers hatte mir in der »Gunst der Fürsten« die Königin Elisabeth zugeteilt. »Nein, Herr Borchers, ich spiele sie nicht. Wer eine Königin in ›Hamlet‹ spielen muß, der gehört auch eine Königin Elisabeth. Frei bin ich nun in dem Stück, das versteht sich; aber ungerecht kann ich nicht sein.« Herr Borchers sah mich an. War wohl der einzige Fall in seiner Art und wird es, denke ich, auch wohl bleiben, daß eine gute Schauspielerin, die beliebt ist bei dem ganzen Publikum, solche schöne Rolle frei, aus Liebe zur Gerechtigkeit, einer andern überläßt. Und Madame Paartl, die sie nun spielte, erfuhr es nicht, und keiner bei der Gesellschaft.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 115-118.
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