Gunther und Helga.

[7] Helga ist ein frisches Hitlermädel aus dem B. d. M., etwas älter als ihr Bruder Gunther, der selbstverständlich in der HJ. ist. Er ist schon länger dabei als seine Schwester, und darauf ist er besonders stolz. Ost genug bekam sie das aber auch zu hören. »Was hast du denn da wieder für einen alten Schmöker?« fragte Gunther neugierig, als Helga plötzlich beim Lesen hell auflachte.

»Junge, nein, ist das komisch!« rief sie vor Vergnügen.

Er darauf ungeduldig: »Na, zeig doch mal her!«

Sie wieder: »Nicht so stürmisch, Gunther, das Buch gehört Mutti. Sieh mal, sein, sogar in Leinen gebunden. Zur Einsegnung hat sie es erhalten.«

»Wie heißt es? – Der feinste Ton? – Ach, das ist wohl ein Liederbuch?«

Helga belehrte ihn: »I wo, das ist ein Buch, daraus kannst du lernen, wie du dich zu benehmen hast.«

»Ach Unsinn«, sagte Gunther, »dazu brauche ich doch kein Buch. Das weiß ich doch so.«

»Das denkst du vielleicht. Mutti hat das auch alles lernen müssen. Und dann war sie noch in einer besonderen Schule, die nannten sie immer die ›Benehmige‹, weil sie da so etwas von Benehmen lernten, wie es hier im Buche steht.«

»Na«, warf Gunther ein, »wenn es sowas Wichtiges ist, warum lachst du denn in einemfort dabei?«

Helga: »Ja, manches kommt einem furchtbar komisch, weißt du, direkt veraltet vor. Paß mal auf, hier steht z.B. etwas Ulkiges vom Tanzen: Beim Tanzen halten die Damen Fächer und Taschentuch oder Strauß und Tuch in der linken[7] Hand, die leicht auf dem Oberarm des Tänzers liegt. Der Fächer ist nur dazu da, um sich Kühlung zuzuwehen. Es ist durchaus unpassend, wenn Damen hinter dem Fächer mit ihrem Herrn flüstern und lachen.

Oder hier: Spricht man von Körperteilen des Menschen, so gebraucht man die Einzahl. Man sagt nicht: ›Fräulein Müller hat schöne Haare, kleine Füße usw., sondern: Fräulein Müller hat prachtvolles Haar, einen zierlichen Fuß, eine kleine Hand.‹«

Gunther lachte hell auf und meinte: »Dann sagt man wohl auch: Tante Anna hat einen schönen Zahn!«

Helga pruschte laut los. –

Ueberdem kam die Mutter herein und erfuhr den Grund der Heiterkeit. »Ja, ja«, sagte sie, »Sitten und Gebräuche ändern sich, das werdet ihr selbst noch erleben.«

Gunther, der ein großer Geschichtskenner sein wollte und sich darauf immer viel zugute tat, hielt seiner Schwester und der stets wißbegierigen Mutter über diesen Punkt gleich einen kleinen Vortrag in auffallend wohlgesetzten Worten:


Sitte und Brauch.

»Wie in den verschiedenen Zeitabschnitten der Völkergeschichte das Denken und Fühlen der Menschen verschieden war, so sind auch Sitte und Brauch unterschiedlich gewesen, z.B. hatte der germanische Krieger und Jäger andere Umgangsformen als der nach strengen Regeln erzogene Ritter des Mittelalters und der verarmte, ungebildete Dorfbewohner im 14. Jahrhundert, Dörfler oder Tölpel genannt, andere als der reiche Städter (stattlich) des 15. und 16. Jahrhunderts.

Der Dreißigjährige Krieg brachte dann wieder eine furchtbare Verrohung der Sitten, und als Rückwirkung oder Reaktion kam dann die überfeinerte Zeit des Rokoko, deren Zierlichkeit und Schnörkelei oft zu einem nach unseren Begriffen verschrobenen Benehmen mit allerlei Pflästerchen, Knickschen, Küßchen und sonstigen Artigkeiten führte.«[8]

»Wie nett er das sagt!« meinte die Mutter stolz.

Gunther fuhr fort: »Man spricht heute noch vom ›höflichen‹ Betragen, ohne an das ›Zu Hofe gehen‹ und an die Königs- und Fürstenhöfe zu denken.«

Helga fragte interessiert: »Hängt vielleicht das Wort ›höfisch‹ auch damit zusammen?«

Gunther erklärte: »Wenn das Verhalten ›höfisch‹ wurde, artete es oft aus in unmännliche Liebedienerei, Katzenbuckelei, in Kriechen und Speichellecken.«

Mutter fügte hinzu: »Solche Auswüchse erzeugte auch das 18. und 19. Jahrhundert noch reichlich.«

Gunther betonte: »Daneben aber in hohem Maße einen freien, männlichen Sinn, ein soldatisches Benehmen, das sich ganz hervorragend im Weltkrieg zeigte. –

Wenn man auch der Vorkriegsjugend (um die Jahrhundertwende 1900) nachsagt, daß sie schon zu verfeinert und überbildet, überstudiert gewesen sei, so hat sie doch noch genügende Mengen von der Geisteshaltung ihrer Väter in sich gehabt, daß sie so herrlicher Heldentaten, wie bei Langemark, wo sie mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in den Feind stürmte, vollbringen konnte.« –

Nun fügte die Mutter hinzu: »Die Sitten der Nachkriegszeit bedeuteten einen unheimlich tiefen Sturz. Etwas Fremdartiges hatte den deutschen Volksstamm überwuchert und suchte mit tausend Fäden in sein Mark zu dringen und seine gesunden Säfte und Kräfte auszusaugen. Genußsucht, Oberflächlichkeit, Müßiggang, Schwelgerei, Putzsucht, Blasiertheit, Unduldsamkeit machten sich im deutschen Volke, vor allem in der Jugend, breit. Das Volk fing an zu verkommen, sittlich zu verwahrlosen.

Da kam der Retter. Mit einem Siegfriedsschlag schlug er dem bösen Lindwurm das Haupt ab und machte das deutsche Volk wieder frei von den fremdländischen Einflüssen, lenkte die Augen der Jugend wieder auf deutsche Sitte nnd Art. Das wollen wir unserm Führer Adolf Hitler ganz besonders danken.«[9]

Helga sagte: »Das Ausland behauptet immer: ›Die Deutschen sind Barbaren, sie sind ein verrohtes Volk.‹ Nun, dann mögen die Herren Ausländer sich einmal unsere Hitlerjugend und die Mädels aus dem B. d. M. ansehen, dann werden sie einen anderen Begriff von Roheit und Zuchtlosigkeit bekommen.«

Gunther fuhr fort: »Mein Unterbannführer führte kürzlich in einer Ansprache etwa folgendes aus:

›Freilich erziehen wir im Dritten Reich die jungen Menschen weder zu ungehobelten Klötzen und Rabauken (letztere waren ja eine Zeitlang auch mal nötig), noch zu Duckmäusern, noch zu Zierpüppchen und gedrechselten und lackierten Tanzsatzken, sondern wie es der Führer will, zu freien, wohlanständigen Menschen, die sich aus ihrer ungezwungenen Natürlichkeit heraus zum schlichten Deutschtum emporbilden. Die Tugenden, die wir pflegen wollen, sind unserem Volk seit altersher eigen. Sie heißen: Mut, Treue, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Ehrliebe, Pflichttreue, Gehorsam, Dankbarkeit, Kameradschaft, Hilfsbereitschaft, Verschwiegenheit, Frömmigkeit, Ehrfurcht.‹«

»Kinder«, sagte die Mutter ganz begeistert, »ich muß immer wieder staunen, wie ihr das alles so sicher auffaßt und so treffend zum Ausdruck bringt.«

»Ja, Mutter, das ist die Jugend von heute, Adolf Hitlers Jugend!« sagte Helga voller Stolz.

»Und«, fügte Gunther hinzu, »solch ein dickes Buch wie das da brauchen wir auch nicht auswendig zu lernen, und in die ›Benehmige‹ sollst du uns nicht mehr schicken. Sieh einmal hierher, das hat mir unser Scharführer geliehen«, dabei zeigte er ein schmuckes Büchlein, darauf stand als Titel: »Willst du erfahren, was sich ziemt? Ein lustiges und lehrreiches Handbuch für die Jugend im Dritten Reich«. – »Hier steht alles sein drin, wie man sich zu benehmen hat, sagt mein Scharführer, alles kurz und bündig, sagt mein Scharführer, und du solltest mir auch so eins kaufen, sagt mein Scharführer.«

»Erst ansehen«, meinte die Mutter, setzte sich und fing an vorzulesen:[10]

Quelle:
Schütte, Carl: Willst du erfahren was sich ziemt? Caputh-Potsdam [o. J.], S. 7-11.
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