131.

[108] Der Geschmack der jungen Leute ist selten, oder nie gehörig rein, ausgebildet und fest; er wird zu häufig verblendet und täuscht sich, und wählt ohne Ueberlegung. Wenn Sie dies itzt nicht zugeben, so beobachten Sie sich einmal, wenn Sie ein zehn oder fünfzehn Jahre älter sind; das heißt, wenn Sie unbefangener, und mit mehr Ruhe urtheilen, und wenn Sie dann zurücksehn, so werden Sie sich über sich selbst und Ihre Täuschung wundern, und manches für nichts weniger, als schön und kleidend halten, was Sie sich Ihrer ersten Jugend mit wahrer Eitelkeit anlegten und worinn Sie sich unendlich interessant erschienen. Ueberzeugen Sie sich davon, daß Ihre Urtheile über Kleidung nur zu häufig von der Mode bestochen werden, und daß, was sie gut heißt und als geschmackvoll stempelt, Ihnen ebenfalls, unwiderleglich gewiß so scheint.

Quelle:
Siede, Johann Christian: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit. Dessau 1797, S. 108.
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