Sänger, Turner- und Schützenvereine

Sänger, Turner- und Schützenvereine

[21] obenan. Sie sind bekanntlich der Schrecken der Städte, welchen von den Festgenossen der Vorzug gegeben worden ist und die zum Schauplatz des betreffenden Festes erhoben sind.

Da diese Städte mit sogenanntem Vergnügen die ehrenvolle Verpflichtung übernehmen, die lieben Gäste so splendid wie möglich zu empfangen und ihnen die Anwesenheit recht freundlich und billig zu gestalten, und da sich die Eisenbahnverwaltungen mit wahrem Entsetzen für verpflichtet halten, den lieben Festteilnehmern sehr billige Fahrkarten zur Verfügung zu stellen, so thut man gut, nicht nur einem dieser Vereine, sondern zweien oder allen dreien anzugehören, um von dem erschütternden Entgegenkommen dieser Städte und Eisenbahnverwaltungen einen fast kostenlosen Gebrauch machen zu können.

Ist man also nicht vergnügungssüchtig und singt, turnt und schießt man nicht, so wird man rechtzeitig[21] Mitglied dieser drei Vereine und macht ihre Wanderfeste mit, nachdem man die billige Eisenbahnkarte bezahlt oder umsonst erhalten hat.

In der zum Fest bestimmten Stadt angelangt, wird man mit den andern Festgenossen, auch Brüder genannt, schon auf dem Bahnhof willkommen geheißen, was niemals geschähe, wenn man als einzelner Reisender, der seine Fahrkarte voll bezahlt hat, kein Freiquartier bekommt, nicht zu großen Festtafeln geladen wird und nicht an anderen Unterhaltungen und Festlichkeiten kostenlos teilnimmt.

Wird man zur Eröffnung des Festes am ersten Abend vom Bürgermeister der Feststadt feierlich angeredet und bildet man in dieser Anrede mit den anderen Brüdern eine Korporation, auf die das Vaterland mit gerechtem Stolz blickt und welcher das Reich Einigkeit und Festigkeit und Schutz seiner heiligsten Güter mitverdankt, so stimme man dankbar in das Hoch auf die Korporation ein, mit welchem der Bürgermeister schließt.

Es findet dann gleich der Sturm auf das Buffet statt, welches sich unter der Last der Erfrischungen beugt.

Während an den folgenden Tagen die beratenden Sitzungen stattfinden, bekümmere man sich um die Sehenswürdigkeiten der Stadt, erinnere sich aber präzise der Pflicht, dem gemeinsamen von der Stadt gegebenen Frühstück und Mittagessen beizuwohnen und an den gleichfalls von der Stadt arrangierten Ausflügen teilzunehmen, um zu beweisen, daß man den Bestrebungen des Sänger-, Turner- oder Schützenverbandes gewissenhaft und von ganzem Herzen nahesteht. So viel ideales Streben muß von jedem Bruder an den Tag gelegt werden.

Ist die Feststadt eine größere, die ein Theater besitzt, und hat dies Theater eine Festvorstellung, für[22] die Teilnehmer des Festes gratis, arrangiert, so versäume man auch diese nicht, auch wenn man das angekündigte Stück schon kennt. Man muß eben bereit sein, der Zusammengehörigkeit ein Opfer zu bringen.

Man sei auch darin ein ganzer Mann, daß man die an den Festtafeln zur Verteilung kommenden Lieder nicht nur mitsingt, sondern sie auch sorgfältig einsteckt und mit in die Heimat nimmt.

Dem Zank der Brüder, oder gar einer zwischen ihnen ausbrechenden Prügelei bleibe man fern, damit man nicht als Zeuge beunruhigt werden kann. Man ziehe in eigenem Interesse vor, weiterzutrinken und höchstens den Kopf zu schütteln.

Gegen die Wirte des Freiquartiers sei man freundlich, wie es sich für das Mitglied eines Verbandes paßt, zu dem das Vaterland mit Stolz aufblickt. Gegen das Dienstmädchen, welches morgens das Frühstück bringt, benehme man sich ebenso.

Wohnt man als Freibeuter einem Sängertag bei, so singe man nicht nach dem Aufstehen, um sich den Wirtsleuten nicht zu verraten. Man ziehe es vor, zu turnen, wahrend man, wenn man in gleicher Eigenschaft einem turnerischen Fest beiwohnt, getrost singen kann. Hat man aber als Teilnehmer eines Sängertages zufällig Stimme, so singe man gern und selbst bei unpassenden Gelegenheiten, so z.B. wenn die Hausfrau Zahnschmerzen hat. Aber es wird dann doch bemerkt, daß man einem Verbande angehört, auf den das Vaterland mit Stolz aufblickt.

Wohl mit größerem Stolz als auf die Sänger und Turner blickt das Vaterland auf die Schützen. Aber man sollte sich trotzdem damit begnügen, die Feste der Sänger und Turner mitzumachen und den Schützenfesten fernbleiben. Denn es wird auf Schützenfesten doch viel getrunken, und als könnte man doch leicht jemand über den Haufen schießen. Allerdings[23] käme man mit geringer Strafe davon, aber so kurz ist keine Gefängnißstrafe, daß man sie nicht lieber ganz vermiede.

Dem wirklichen Turner, Sänger oder Schützen ist aufrichtig Glück zu wünschen, ihm aber auch ans Herz zu legen, daß er, wenn er in seiner Eigenschaft als Bürger Mitglied eines Parlaments würde, nicht so energische Reden gegen die Verwaltungen halte, wenn ihm diese nicht sparsam genug erscheinen. Denn er hat ja auf seinen Wanderfesten die armen Städte zu großen Ausgaben verleitet und hätte jeden angeschrieen, der sie zur Sparsamkeit hätte veranlassen wollen.

Wenn man Lust hat, sich im Sommer von einigen Städten gut sättigen und unterhalten und von den Eisenbahnen billig befördern zu lassen und kann bei den Turnern, Sängern und Schützen kein Unterkommen finden, so wende man sich an andere Korporationen und Vereine, welche billig zu reisen und sich ebenso beköstigt wünschen. Mit Ausnahme des Berufs der Nachtwächter hat jeder Beruf seinen Tag.

Ist man impressionistischer Maler, so wundere man sich nicht, daß man anderswo die Bäume nicht blau und das Gras nicht rot findet wie in der Heimat. Die Bäume sind nun einmal anderswo nicht blau und das Gras nicht rot, das steht fest.

Ist man Arzt und macht einen


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 21-24.
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