der Gesundbeter

der Gesundbeter

[68] eine Erscheinung der Neuzeit, eine Zierde des modernen Mittelalters, ein Stern am Himmel des Rückschritts, ein Trost der Finsternisanbeter.[68]

Wenn man den Gesundbeter für einen Kurpfuscher ohne Medikamente erklärt, so wird man ihn dadurch zum Gesundbeten anregen, da man von ihm für verrückt gehalten wird.

Ist man Gesundbeter, so wird man natürlich jeden, von dem man hörte, er sei Krankbeter, für einen Schwindler erklären, da man recht gut weiß, daß man keinen Gesunden krankbeten könne. Dagegen wird man überzeugt sein, daß man selbst ein Wohltäter der Menschheit sei, wenn man Kranke gesundbete, da die Genesung durch ärztliche Hilfe als Aberglauben betrachtet werden müsse.

In diesem Fall sei man von der Überzeugung durchdrungen, daß man einem Kranken durch das Gesundbeten nicht schaden könne, wenn er jedenfalls gesund geworden wäre, und daß das Gesundbeten nur dann schaden könne, wenn man dem Kranken jede ärztliche Hilfe versagt, indem man annimmt, daß diese durch das Gesundbeten ersetzt werden würde. Wird aber der Kranke ohne ärztliche Hilfe nach dem Gesundbeten gesund, so kann man mit Stolz erklären, man habe sich einer fahrlässigen Wiederherstellung schuldig gemacht.

Ist man kein Freund einer heftigen Scene, an deren Ende man sicher hinausgeworfen wird, und hat man einen vernünftigen Freund, der erkrankt ist, so gehe man nicht zu ihm, um ihn gesund zu beten, sondern überlasse ihn seinem traurigen Schicksal. Hat man aber einen reichen Erbonkel, so überzeuge man ihn, daß das Gesundbeten das einzige Mittel gegen das Sterben sei, um ihn zu veranlassen, im Fall einer Erkrankung keinen Arzt hinzuzuziehen, sondern lediglich das Gesundbeten in Gebrauch zu nehmen. Schon nach einiger Zeit wird man der lachendste Erbe des Bezirks sein.

Erkrankt man selbst, so sende man heimlich zu[69] einem zuverlässigen Arzt und befolge gewissenhaft dessen Anordnungen, ohne daß dies die Mitgesundbeter erfahren, welche nun tüchtig gesundbeten. Ist man dann wiederhergestellt, so preise man überall den Wundererfolg des Gesundbetens und nütze auf diese Weise seiner kleinen, aber frommen Gemeinde.

Noch andere Mittel, ihr zu nützen, sind folgende:

1. Erfährt man, daß ein Kranker durch die Kunst der Arzte von einem schweren Leiden befreit worden sei, so gehe man zu ihm und teile ihm (auch brieflich) mit, man habe ihn ohne sein Wissen (also gewissermaßen meuchlings) gesundgebetet. Dies verbreite man auch an runden Tischen, in einem Gesangverein, in einigen Kompagnieen der Heilsarmee und in einem Kaffeekränzchen, und bald werden sich viele Patienten finden, welche sich schon für 20 Mark, die man ihnen vorauszahlt, gesundbeten lassen.

2. Man ist nicht krank gewesen, dagegen sehr verreist, ohne irgend einem Bekannten etwas davon zu sagen. Eines Tages kehrt man zurück und erzählt den Bekannten von dem Wunder, dem man das Glück verdankt, noch unter den Lebendigen auf Erden zu wandeln. Man habe schon mit einem Fuß im Grab gestanden, man war vom Arzt bereits aufgegeben, da habe dieser angeordnet, man solle das Letzte versuchen: das Gesundbeten. Man habe nun mehrere bewährte Gesundbeter kommen lassen, und schon nach drei Tagen habe man das Bett völlig geheilt verlassen. Hierauf sei noch die Rekonvalescenz durch einiges Gesundbeten beschleunigt worden, und nun beneide man keinen Fisch im Wasser mehr.

3. Man rede einem guten Freunde ein, er bekomme die Gelbsucht, die Gürtelrose, die Gicht, ein Steinleiden, einerlei was, man sehe es seinen Augen an. Im Laufe der nächsten Woche teilt man ihm dann mit, man habe die Krankheit im Keim gesundgebetet[70] und nun gratuliere man ihm zu seiner wunderbaren Rettung. Kosten würden dadurch nicht verursacht. Von der Kur mache man mehreren Damen, die gerne immer etwas Neues und Sensationelles erzählen, Mitteilung.

4. Man erzähle: »In einem californischen oder einem anderen überseeischen Krankenhause haben die Kranken sich vorige Woche zusammengerottet, die Ärzte verjagt und zehn Gesundbeter angestellt. Diese gingen sofort an die Arbeit, und heute steht das Krankenhaus leer, das nun zu einer Turnhalle umgebaut werden soll.« Erst nachdem man dies erzählt hat, bestellt man den ersten Schoppen Mosel, damit die Hörer merken, daß man völlig nüchtern sei.

Wer die Gesundbeter kennen lernen will, scheue nicht den Weg in die höheren Kreise der Gesellschaft. Auf den unteren Steuerstufen ist man von der Schädlichkeit der Arznei noch nicht so vollständig überzeugt, wie auf den höher gelegenen, im Gegenteil würde man einem Arzt gegenüber, der, statt zu arbeiten, betete, den eigenen Hausknecht spielen.

Ist man Gesundbeter und wünscht vom Glauben an die heilsame Wirkung des Gesundbetens kuriert zu werden, so wende man sich nicht an einen Gesundbeter, denn auch vom Gesundbeten kann das Gesundbeten nicht heilen.

Hat man ein Geschäft, das nicht geht, oder treibt man ein Handwerk, dem der goldene Boden fehlt, so suche man eine Stelle als Gesundbeter. Das Gesundbeten ist noch nicht zur Gewerbesteuer herangezogen, und bis man einen besserern Nahrungszweig findet, sichert es jedenfalls eine Einnahme, von der man ziemlich gut den Lebensunterhalt bestreiten kann.

Um den Gesundbeter, der unter Umständen sehr argen Schaden anrichten kann, einen Mann gegenüberstellen zu können, der zwar auch nicht einwandfreie.[71] Eigenschaften hat und leicht lächerlich werden kann, aber doch durchaus harmloser Natur ist, sei nun


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1903, Bd. IV, S. 68-72.
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