Ratschläge für ein junges Mädchen hinsichtlich der Korrespondenz.

[103] Dehne deinen Briefwechsel nicht über Gebühr aus. Es gibt junge Damen, die nach der Rückkehr aus dem Pensionate geradezu der Korrespondenz entsetzlich huldigen; da sind es nicht selten 20 und mehr Freundinnen, an die wenigstens alle 14 Tage ein Briefchen abgeht. Zwar lösen sich diese Verbindungen gewöhnlich nach kurzer Zeit von selbst; dann jedoch ist es fast immer mit einer Enttäuschung für den einen oder anderen Teil verbunden, die man sich sehr leicht ersparen könnte. Darum halte gleich von Anfang an Maß Die Übertreibung kostet hier Geld und viele Zeit und hat dennoch keinen Zweck.

Sei auch recht vorsichtig in der Wahl derjenigen, mit denen du einen vertrauten Briefwechsel führen willst, ebenso wie in der Wahl des täglichen Umgangs, ja noch mehr. Vorsicht ist im Schreiben weit dringender als im Reden; das gesprochene Wort verfliegt, das geschriebene hältst du schwarz auf weiß in der Hand.

Gehe behutsam mit den Briefen um, die du empfängst, laß sie nicht umherliegen, damit sie nicht Personen in die Hände geraten, für die sie nicht bestimmt sind. Nicht mit Unrecht sagt jemand:[103]

».... Ein einziges aus Unachtsamkeit liegen gebliebenes Papier hat manches Menschen Ruhe und oft auf immer den Frieden einer Familie zerstört.«

Du selbst sollst die offenen Briefe, die in den Wohnräumen liegen oder die du etwa findest, nicht lesen, wenigstens im allgemeinen nicht. Geschieht es jedoch, daß du, um dich zu orientieren, an wen das Schreiben gerichtet ist, hineinblickst und etwas erfährst, was nur für den Empfänger bestimmt ist, so hast du die Pflicht, unverbrüchliches Stillschweigen darüber zu beobachten.

Selbstredend darfst du niemals Briefe, die nicht an dich gerichtet sind, öffnen. Das Briefgeheimnis ist heilig und soll von allen hochgehalten werden. Es gibt sogar Fälle, wo die Verletzung desselben zur Sünde werden kann.

Legst du verschiedene Briefe in ein Kuvert, so richte die Adresse an die älteste oder höherstehende der betreffenden Personen. Schreibst du on Respektspersonen und fügst einige Zeilen, die für einen anderen bestimmt sind, bei, so lege sie in ein besonderes Kuvert, ohne dieses jedoch zu schließen.

Anonyme Briefe sind etwas so Gemeines und Niedriges, daß ich davon gar nicht reden will. Aber nur ein sehr trauriges Beispiel will ich euch erzählen, wie anonyme Briefe ein junges Mädchen ums Lebensglück gebracht haben.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Sie war eine Braut, ein frohes, vertrauensvolles, großes Kind mit ihren 20 Jahren, welches »sein Glück« leider nicht in sich verschließen konnte und es[104] ihrer besten Freundin mitteilen mußte. Diese beste Freundin aber verdiente den Namen und das Vertrauen nicht. Sie selbst wäre nur zu gerne die Braut des Verlobten Tonis gewesen ... Warum soll ich hier lang und breit schildern? Nur das unglückliche Ende: Toni erhielt »anonyme« Briefe, die ihren zur Zeit auf einer Expedition weilenden Bräutigam aufs abscheulichste verdächtigten. Die ganze Sache war mit einem Raffinement sondergleichen durchgeführt, aber Toni, zart und leicht erregbar, begann zu kränkeln, bis eine letzte Mitteilung ihr auch den letzten Stoß gab: das früher so frische, blühende Mädchen weilt heute noch als unheilbare Kranke in einer Irrenanstalt.

Gott sei Dank ist dieser Fall, wenigstens der trostlose Ausgang, ein Ausnahmefall, aber ihr seht doch, welch erschütternde Folgen eine Handlungsweise haben kann, von der man leider sagt, daß sie bei Frauen und selbst jungen Mädchen gar nicht so ungewöhnlich sei.

Also niemals etwas Anonymes. Abgesehen von dem Leid, welches ihr anderen bereitet, werdet ihr auch eure eigene Gewissensruhe zerstören, denn ich halte es rein für unmöglich, daß ein junges Mädchen, welches sich eines solchen Vergehens bewußt ist, sich frei und glücklich fühlen kann. Die Furcht vor Entdeckung muß es Tag für Tag verfolgen, und in der Tat, auch hier gilt das Wort:


Es ist nichts so sein gesponnen,

Es kommt endlich an die Sonnen.
[105]

Erhältst du einen beleidigenden Brief, so tust du am besten, ihn zu ignorieren, wenigstens ihn nicht zu beantworten. Ist eine Antwort unbedingt nötig, so schreibe ruhig und vergiß nicht, daß das geschriebene Wort sich gewöhnlich weit schroffer ausnimmt als das gesprochene. Ein erregt gesprochenes Wort wird leichter verziehen; beim geschriebenen jedoch setzt jeder Überlegung seitens des Schreibers voraus, und ist es deshalb um so verletzender.

Noch möchte ich dir raten, keine Korrespondenz ohne Wissen der Eltern zu führen. Die Mutter wird nicht von der erwachsenen Tochter verlangen, daß sie ihr gestatte, ihre Briefe zu öffnen und zu lesen; dennoch ist es eine kindliche Pflicht des Vertrauens, der Mutter die empfangenen Briefe anzubieten. Eine gute Tochter wird vor einer guten Mutter kein Geheimnis haben wollen, und ich finde nichts so schön und rührend als ein ganz offenes, inniges Verhältnis zwischen Mutter und Kind.[106]

Quelle:
Tante Lisbeth: Anstandsbüchlein für junge Mädchen. Regensburg 4[o.J.]., S. 103-107.
Lizenz:
Kategorien: