F. Gegen die Armen.

[60] 48. Deine Nächstenliebe erstrecke sich auch auf die Armen; sie haben ja eigentlich den gerechtesten Anspruch auf dieselbe und auf Deine Höflichkeit; sie sind unsere Mitmenschen, Kinder Gottes und Erlöste Jesu Christi. »Der Reiche und der Arme begegnen einander, der Herr aber hat beide erschaffen.«

49. Begegne dem Armen mit Achtung und Höflichkeit, aber nicht mit jener gemessenen Höflichkeit, wie man sie Höhergestellten gegenüber beobachten muß, sondern mehr mit teilnehmender Freundlichkeit und Milde; schenke ihm geneigtes Gehör, sei nachsichtig mit manchen unschicklichen Ausdrücken, die er gebraucht; zeige ihm ein redliches, teilnehmendes Herz, tröste, belehre ihn, rede freundlich mit ihm.

50. Wenn Du einem Armen Gutes thust, so thue es mit Artigkeit und betrübe ihn nicht durch harte Worte. Ein gutes Wort ist dem Armen wohlthuender, als eine Gabe: ein gerechter Mensch gibt beides. Das freundliche Geben gehört zum Gebote der Liebe und entspricht deshalb in ganz vorzüglicher Weise dem Geiste des Christentums. Wer sich mit liebreichem Herzen der Armen erbarmt, leihet dem Herrn und empfängt es tausendfach zurück. Stolze Miene und unfreundliche Abfertigung raubt der Gabe ihren Wert vor Gott und den Menschen. »Wenn du jemand Gutes thust, so schilt ihn nicht aus, und in allen deinen Gaben betrübe niemand durch rohe[60] Worte. Kühlt nicht der Tau die Hitze? So ist ein gutes Wort besser als ein Almosen. Ein Narr verweiset mit scharfen Worten, und die Gabe des Unfreundlichen macht betrübte Augen« (Sirach 18, 15–18).

51. Grüße den Armen freundlich. Laß durch keinen Zug, durch keine Miene jemand fühlen, daß er durch etwa empfangene Wohlthaten Dir zum Danke verpflichtet ist. Sind es ältere Leute, denen Du begegnest, so sei nicht kleinlich und warte, bis sie Dich grüßen, sondern grüße zuerst. Den Gruß eines Armen nicht zu erwidern, wäre eine arge Beleidigung und zugleich ein grober Verstoß gegen die Höflichkeit.

52. Begegnest Du mißgestalteten, mit einem Gebrechen oder einer Krankheit behafteten Menschen, so lehrt uns die Nächstenliebe wie der Anstand, sie darauf hin nicht einmal scharf anzusehen, viel weniger noch, sich nach ihnen umzusehen oder etwa andere durch Deuten darauf aufmerksam zu machen. Das gebieten Takt und Mitgefühl schon ganz von selbst.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 60-61.
Lizenz:
Kategorien: