A. Vom Grüßen.

[67] 1. Bei allen Völkern war und ist es Sitte, zu grüßen. Der Gruß ist das äußere Zeichen dafür, daß sich die Menschen beachten, nicht gleichgültig gegeneinander sind, nicht stolz und teilnahmslos aneinander vorübergehen wollen. Teilnahme soll ja der Mensch dem Menschen beweisen und der Gruß ist das Leichteste und Geringste, was man in dieser Beziehung thun kann; er ist das einfachste und allergewöhnlichste Zeichen der Nächstenliebe, meist mit einem Segenswunsche verbunden. Am Gruße erkennt man überdies sofort den Mann der seinen Lebensart oder den Mann von mangelhafter Erziehung.

2. Die Nächstenliebe fordert, daß wir niemand vom Gruß ausschließen und keinen Gruß unerwidert lassen. Letzteres wäre ein Zeichen von großer Lieblosigkeit.

3. Verpflichtet sind wir, unsere früheren und jetzigen Vorgesetzten, besonders die Priester, zu grüßen.

4. Man grüßt ferner seine Bekannten und jene, mit denen man im Verkehr steht.

5. Man grüßt alle Fremden, denen man auf einem abgegrenzten Privatgebiet, wie in einer Hausflur, einem Hofe, auf der Treppe begegnet.

6. Man grüßt diejenigen, die uns grüßen.[67]

7. Auf dem Lande ist es Sitte, alle erwachsenen Personen zu grüßen, und man soll sich dieser schönen Sitte nicht entziehen.

8. Halte es nicht unter Deiner Würde, als Reicher den Armen, als Angesehener den Geringen, als Gebildeter den weniger Gebildeten, als Herr im Hause den Dienstboten oder Arbeiter freundlich zu grüßen.

9. Ist die uns begegnende Person geringer, als wir, so darf man nicht kleinlich mit dem Grüßen warten, bis sie uns grüßt, sondern man muß in diesem Falle möglichst zuvorkommend sein. Ein edler Mensch von wohlwollender Gesinnung zeichnet sich durch die liebevolle Art aus, mit welcher er diese schöne Pflicht der Nächstenliebe erfüllt.

10. Man grüßt auch beim Einsteigen in einen Eisenbahn- oder Postwagen, und wenn man in einem Gasthause oder Caféhause an einem bereits von Unbekannten besetzten Tische Platz nimmt; ebenso beim Eintritt in das Wartezimmer eines Arztes.

11. Auf dem Lande haben mehrere Personen, wenn sie auf einem öffentlichen Platze im Freien oder in einem öffentlichen Lokale sitzen und es tritt eine bekannte höhere Person (Pfarrer, Lehrer, Vorgesetzte) herein, aufzustehen und dabei gegebenenfalls den Hut abzunehmen.

12. Der Niedere hat immer den Höheren, der Jüngere den Aelteren zuerst zu grüßen.

13. Gehen zwei Herren miteinander und der eine grüßt einen Vorübergehenden, so muß der[68] andere auch grüßen, auch wenn ihm die gegrüßte Person unbekannt ist.

14. Die einfachste Art des Grüßens ist die, daß man den Hut abnimmt und zwar um so tiefer, je höher der uns Begegnende ist.

15. Der Hut wird abgenommen, sobald man sich dem zu Grüßenden auf etwa zwei Schritte gegenüber befindet; ist der Begegnende eine hochgestellte Person oder ein Vorgesetzter, schon drei Schritte vorher; erst wenn der Betreffende vorüber ist, darf man den Hut wieder aufsetzen.

16. Man ziehe den Hut immer ganz ab, lüfte ihn nicht nur ein wenig oder berühre ihn gar nur mit der Hand (»Hinaufstechen«, wie bei den Soldaten). Auch halte man ihn nicht übermäßig hoch über dem Kopfe schwebend.

17. Man zieht den Hut in der Regel mit derjenigen Hand ab, welche der zu grüßenden Person entgegengesetzt ist. Befindet sich dieselbe demnach auf der rechten Seite, so faßt man den Hut mit der linken Hand und umgekehrt. Man hat nämlich die Verpflichtung, denjenigen, den man grüßt, zu gleicher Zeit auch anzusehen, umgekehrt darf derselbe verlangen, zu sehen, von wem er gegrüßt wird, was durch den erhobenen Arm beides unmöglich würde. Ist es aus irgend einem Erunde unmöglich, diese Regel zu befolgen, so zieht man die Hand mit dem Hut tief herunter, so daß man den zu Grüßenden frei ansehen kann.

18. Damen sind von Herren stets zuerst zu grüßen.

19. Hat man im Stehen zu grüßen, so bringt[69] man den Hut an die rechte Seite und macht eine anständige Verneigung. Hat man keine Kopfbedeckung, so verneigt man sich bloß, aber mit geschlossenen Beinen (Stillestehen).

20. Im Sitzen grüßt man nicht, wenigstens nicht höhere Personen; hat man, während man sitzt, einen Höheren zu grüßen, so muß man sich erheben und eine Verbeugung machen; nur beim Grüßen von ganz nahen Bekannten oder ganz vertrauten Freunden ist es gestattet, sitzend zu grüßen, in welchem Falle eine leichte Verneigung gemacht wird.

21. Der ehrfurchtsvollste Gruß ist es, wenn man mit dem Hute in der Hand, das Gesicht der vorübergehenden Person zugewandt, stehen bleibt und eine tiefe Verbeugung macht. Dieser Gruß ist anzuwenden bei Begegnungen mit besonders hochgestellten – geistlichen oder weltlichen – Persönlichkeiten, Fürsten, Ministern, Kardinälen, Bischöfen usw. und bei Prozessionen. Vor dem Allerheiligsten kniet man.

22. Hat man eine Zigarre im Munde, so muß man sie beim Grüßen herausnehmen.

23. Regel ist, daß man dem Gruße kein Wort beifügt (stummer Gruß), außer bei Freunden und guten Bekannten. Geistlichen und Lehrern, ebenso anderen Vorgesetzten gegenüber ist es übrigens, wenigstens unter dem Volke, Sitte, daß man bestimmte Grußformeln anwendet, so »guten Morgen guten Tag, guten Abend« usw.

24. Dabei hüte man sich, den betreffenden Personen nur »guten Tag« usw. zuzurufen, sondern[70] man setze immer ihren Titel mit dem Worte »Herr« bei, z.B. guten Tag, Herr Pfarrer, guten Abend, Herr Lehrer usw.

25. Der schönste Gruß ist der Gruß »Grüß Gott!« und der in vielen katholischen Gegenden, wo man sich des Christentums noch nicht schämt, übliche Gruß »Gelobt sei Jesus Christus«, den man mit den Worten »In Ewigkeit, Amen« zu erwidern hat. Der abscheulichste aller Grüße dagegen ist das seit neuerer Zeit üblich gewordene »Mahlzeit!«, eine kurze Fassung des Satzes: »Was der Mensch ißt, das ist er.«

26. Grußformeln beim Verabschieden sind: »Gott behüte Sie!«, »Gott befohlen!« Der Christ wird mit Vorliebe diese Formeln gebrauchen beim Weggehen von Bekannten, Freunden, Gleichgestellten. Bei Höheren hat es zu lauten: »Ich empfehle mich bestens, gehorsamst.«

27. Vorgesetzte grüßt man ehrerbietig, Seinesgleichen herzlich und freundlich, seine Untergebenen leutselig und wohlwollend.

28. Ganz besondere Verpflichtungen zum Grüßen hat in bestimmten Fällen der Katholik. Für ihn ist es Ehrensache, zu grüßen:

a) wenn er einem Priester oder Ordensmann begegnet, gleichviel ob ihm derselbe bekannt sei oder nicht. Der Gruß gilt hier nicht der Person, sondern dem Amte und der Würde;

b) wenn er dem allerheiligsten Sakramente begegnet (siehe Seite 17, 11 b);

c) wenn er an einer Kirche oder an einem Kruzifixe vorübergeht;[71]

d) vor Prozessionen und Leichenzügen. In diesem Falle bleibt man unbedeckt, bis der Zug vorüber ist.

29. Nur unter bestimmten Umständen kann man auf der Straße dem Gruße ein Gespräch beifügen unter guten Bekannten; niemals aber darf man über die Straße hinüber oder in ein Haus hineinsprechen.

30. Ist man begleitet oder hat der uns Begegnende einen Begleiter, so schickt es sich nicht, mit dem uns Begegnenden ein längeres Gespräch anzuknüpfen.

31. Hat man wirklich notwendig, auf der Straße mit jemand zu sprechen, so geschehe es so kurz als möglich. Nach dem Gespräche grüßt man wieder.

32. Ist man mit jemand auf der Straße in einem Gespräche begriffen und es geht eine Persönlichkeit vorüber, die man zu grüßen hat, so unterbreche man einen Augenblick das Gespräch und wende sich grüßend der betreffenden Persönlichkeit zu.

33. Es verstößt zwar nicht gegen den Anstand, zufällig, wenn man am Hause eines guten Freundes vorübergeht, nach dem Fenster zu schauen und ihn und seine Angehörigen durch Abnehmen des Hutes und ein kleines Kompliment zu grüßen, doch ist es dem guten Ton zuwider, jemand der sich am Fenster befindet, anzureden und ein längeres Gespräch mit ihm zu führen. Ebenso unpassend ist es, vom Fenster aus einem Vorübergehenden zuzurufen und ein längeres Gespräch mit ihm anzuknüpfen.[72]

34. Bezüglich des Grüßens merke überhaupt: Thue hierin eher zu viel als zu wenig. Hast Du jemand aus Versehen gegrüßt, den Du nicht kennst, so bereue es nicht, denn: »Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land.«

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 67-73.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon