Die Vereinigung der XI, die dekorative Kunst und das Kunstgewerbe

[29] Ich habe bereits erwähnt, wie der Tod Wilhelms I., einbegriffen die kurze Regierung Kaiser Friedrichs III., in Deutschland Umwälzungen hervorgebracht hatten. Der neue Fürst hatte ein gar zu weitgehendes persönliches Interesse für alles: »Sic volo sic jubeo« hatte er in das goldene Buch des Münchner Rathauses geschrieben. Ein weiterer Ausspruch war »regis voluntas suprema lex«. Die Kunst sollte nur dazu dienen, die Geschichte seiner Vorfahren zu verherrlichen. Zweimal hat der Kaiser die von der Jury zur Prämiierung mit der ersten goldenen Medaille Vorgeschlagenen (1890 Vallot, den Erbauer des Reichstagsgebäudes, und 1908 Lederer, den Schöpfer des Hamburger Bismarckdenkmals) ausgestrichen und andere Namen anstatt dieser hingesetzt.

In der Literatur erhob er Georg Ohnet zu dem größten französischen Schriftsteller, Leoncavallo sollte eine märkische Oper komponieren und Charleys Tante – eine englische Clownsposse – konnte ihm nicht oft genug vorgespielt werden.

Diese subjektive Art, Kunst zu treiben, schuf selbstverständlich ein Heer merkwürdiger Kunstrepräsentanten. Wie es aber immer in der Welt ist, gab es doch eine kleine Gemeinde, welche die zurückgedrängten, wahrhaft schaffenden Künstler unterstützten. Jetzt zeigte es sich zuerst, welche Vermögen in Berlin erworben waren und wie das wahre Kunstinteresse in einigen Kreisen aufgeblüht war.[29] Berlin, das früher fast ein Botokudennest in Kunstangelegenheiten genannt werden mußte, wo die Reichen sich für gewisse Summen von Gustav Richter und ähnlichen geschickten Süßmeiern malen ließen und die glattesten Genrebilder für ihre Salons kauften, war sehr schnell Verehrer der Pariser Impressionisten und der modernen Kunst geworden.

Da die offizielle Ausstellung am Lehrter Bahnhof eine bestimmte höfische Tendenz aufweisen mußte, ging doch die schmeichlerische Liebedienerei sogar soweit, daß 1890 bei einem Besuch des Kaisers in der Ausstellung ein Bismarckporträt Lenbachs entfernt und erst, nachdem der Kaiser gegangen, wieder an seinen alten Platz zurückgebracht wurde, so bildeten sich jetzt zuerst Gruppen von Unzufriedenen.

Sie unterschieden sich von einander in »Junge« und »Alte«. Die[30] »Jungen« als Minorität arbeiteten und strebten vorwärts, die »Alten« als Majorität bestanden auf das Althergebrachte. Natürlich hatten diese durch ihre größere Zahl immer die Übermacht und die Jungen kamen mit ihren Absichten nie auf. So suchten die Strebenden selbständig außerhalb der offiziellen Ausstellung vorzugehen und suchten etwas darin, als Sonderlinge bewundert zu werden und auf diese Weise weiter zu kommen.

Die erste Tat war die private Beschickung der Pariser Weltausstellung von 1889 als Jahrhundertfeier der französischen Revolution. Da das deutsche Reich sich wegen der antimonarchischen Tendenz nicht beteiligte, so regte Liebermann eine Anteilnahme der deutschen Künstler an diese Weltausstellung privatim an. Fast ganz Jungdeutschland beteiligte sich. Unter den revolutionären Berlinern, welche hauptsächlich Teilnehmer[31] an diesem Privatunternehmen, eigentlich an dieser Demonstration, waren, wird wohl auch mit Bestimmtheit Leistikow zu rechnen gewesen sein und ebenfalls wird dabei auch seine erste Bekanntschaft mit Max Liebermann stattgefunden haben, welche bald zur Freundschaft und dann so folgenreich für das berlinische Kunstleben werden sollte.

Dann ging es weiter: im Februar 1892 wurde die Vereinigung der XI gegründet. Man findet dort die Namen derer, welche zu jener Zeit die moderne Kunst in Berlin vertraten. Hugo Vogel und Skarbina traten sogar von ihrem Lehramt an der Akademie ab, als Ihnen dort Differenzen aus ihrer Mitgliederschaft erwuchsen. Mosson, Friedrich Stahl, Ludwig von Hofmann sind heute noch auf der Höhe zu nennen; der heimliche Führer der anarchischen Elfer war aber be reits Max Liebermann.

Sie stellten jedes Frühjahr bei Schulte aus und verstanden ihre Ausstellung zu dem wichtigsten Kunstfaktor Berlins zu machen. Gleich bei der ersten Ausstellung brachen sich die beiden Jüngsten, Walter Leistikow und Ludwig von Hofmann, Bahn und wurden von da ab als die Hoffnungsreichsten unter den Berliner Künstlern in die Kunstgeschichte einregistriert.

Leistikow hatte die Gudesche Art aufgegeben. Er verwendete kleine Naturausschnitte: einen sonnenbeschienenen Gartenwinkel mit wehender Wäsche, ein Stückchen Weg mit Schaubuden-Karren, Waldinneres und Wasser mit Böten etc. Hier kommt bereits seine neue Art, die uns jetzt so selbstverständlich erscheint, zum Durchbruch, nämlich das Aufgeben jeder Staffage. Immer war es beliebt und eine Erleichterung, die Stimmung vermittelst Menschen und Tieren, die in irgend eine Beziehung zu der Landschaft gebracht wurden, zu erhöhen und verständlich zu machen. Hier war nur die Landschaft allein und sie wirkte dennoch.[32]

Die Motive für seine Bilder fand er auf Studienausflügen in die Mark, aber sie erstreckten sich auch bis nach Süddeutschland, Tirol und gar bis Venedig, von wo er dann mit reicher Ausbeute beladen wieder in sein geliebtes Berlin zurückkehrte. Auf solcher Reise trafen wir uns dann wieder in München, Dachau, am Starnberger See und verbrachten miteinander angenehme Tage. Wir wollen aus dieser Reisezeit eine literarische Momentaufnahme herausfischen, wo uns der junge Künstler lebendig entgegentritt. Theodor Wolff, der später zu seinen intimsten Freunden gehörte, schildert sein erstes Zusammentreffen mit ihm auf folgende Weise im Berliner Tageblatt vom 14. November 1893: Nachdem er sich über die 2te Ausstellung der XI, besonders über Leistikow, der mit 6 Bildern dort vertreten war, sehr lobend ausläßt, fährt er folgendermaßen fort:


[34] »Vier Wochen ist es her, als ich eines Morgens in Bamberg in den Eilzug stieg, der nach Berlin dampfte. In einer Ecke des Kupees saß ein blasser, blonder Herr – so Anfang der Dreißig, oder Ende der Zwanzig, in Decken sorgsam eingenäht, nervös und ein wenig verträumt. Ueber ihm im Netz schaukelten Skizzenbücher und Mappen. Gähnend blätterte ich in Arne Gaborgs neuester Geschichte ›Frieden‹. Die war gerade der Gegensatz zu dem Eilzug und melancholisch dachte ich, wie so schnell man doch durchs Leben kommt und wie so langsam durch manche Bücher – da sprach mich der Blasse an: ›Lieben Sie Gaborg?‹

Ich habe niemals ein ähnliches Wunder erlebt. In einem deutschen Eisenbahnwagen jemanden zu treffen, der von Arne Gaborg weiß und spricht, ist schon der Wunder allerhöchstes. Ich war so gerührt, daß ich nur ein paar Worte stammeln konnte. Und innerlich wußte ich's – ›aha, das muß auch einer sein!‹ Dann stellte es sich heraus, daß der Frager kein anderer war, als Walter Leistikow. Er kam aus Bayern und hatte in den Bergen gemalt. Aber keine Ganghofergeschichten ›auf der Alm‹, sondern wieder nur menschenverlassene stille Winkel.

In seinem Atelier ist nun alles beieinander. Eine lange Reihe von feinen, flüsternden Bildern. Sehr vieles mit Motiven aus der Umgegend Berlins. Ein müder Föhrenwald, wo als letzte Abendsonnengrüße noch ein paar zitternde Lichtreflexe über die harten Stämme irren. Ein kleiner Hof, wo auf langen Leinen die Familienwäsche in der warmen Sonne trocknet.«


Aber er wollte weiter. Diese kleinen Naturausschnitte genügten ihm nicht mehr für das, was er ausdrücken wollte. Während dieser Zeit der ersten Triumphe hatte er sich mit einer Dänin Anna Mohr verheiratet, die mit höchstem Geschmack und kritischstem Geist reich begabt war, und diese Eigenschaften waren durch eine vielseitige tiefe Bildung auf das feinste kultiviert. Seine Auffassung der Dinge strebte nun – durch seine Gefährtin angefeuert – in großartigere Dimensionen. Er lernte den Norden kennen: die sanften,[35] langgestreckten Hügelreihen Dänemarks, die stolzen Ruinen der Stadt Wisby. Das Idyllische mit den feinen Tonskalen vertauschte er mit majestätischen, langgestreckten Naturschilderungen, die ihre Hauptwucht in der Linienführung zeigten. So kam er denn auf das Dekorative. Er verwandte nun lediglich die Lokalfarbe, d.h. die Färbung, welche die Gegenstände an und für sich haben, unabhängig von den Einfiüssen, die Luft und Licht auf sie ausüben. Die günstigste Beleuchtung für derartige Effekte, wo die Gegenstände mit ihrer absoluten Farbe wirken, ist in den nordischen Regionen die langanhaltende Dämmerung. Die Sonne ist untergegangen, aber noch lange ist alles in diesem eigentümlichen hellen und doch wieder kraftlosen Lichte sichtbar. Auf diese Weise entstand das Bild »Die Ruinen von Wisby« und viele Wald- und Terrainbilder, wo die Bäume gleich roten, grünen, gelbenKugeln, nur auf die Masse gesehen, wirken, und die Horizontlinien der Bergzüge weit aber bestimmt ineinander verlaufen; auf manchen Bildern schwimmt in dem Äther die lichtlose Mondsichel über das Ganze. Ein Waldinneres schafft er nun zu einem Dom, und zwar so, daß die Stämme hochragende Säulen werden und die Durchblicke riesige vielfarbige Kirchenfenster. Auch das skandinavische Gebirge faßte er nur als zeichnerische Formen in herbem Schwarz und Weiß auf. Bei dieser Betätigung lag ein Interesse für das Kunstgewerbliche auf der Hand. Er würde von selbst darauf gekommen sein, einige Zeit dafür zu verwenden, wenn esnicht sozusagen in der Luft gelegen hätte, daß sich viele Maler kunstgewerblich beschäf tigten. Aus London und Belgien war diese Kunstrichtung hauptsächlich nach München importiert worden. Hier hatte Eckmann die Malerei ganz auf den Nagel gehängt und erfand nur noch Entwürfe für Möbel, Teppiche, Stühle etc. Eckmann war einer der ersten dieser Branche, und bald erhielt er einen Ruf als Lehrer an das Kunstgewerbemuseum in Berlin. Dort traf er mit dem Belgier van de Velde und unserem Leistikow in denselben Bestrebungen zusammen. Ihre Stilarten waren von einander soviel wie möglich unterschieden. Der dekorative Sinn scheint für Leistikow nur in nordischen Motiven Reiz gehabt zu haben: Überall in Stühlen, auf Teppichen, Bettstellen tauchen – wo es nur angeht – die heidnisch nordischen Pferdeköpfe auf, die Wikingerschiffe, die ornamental geformten Wellen und das Kielwasser der norwegischen Fjorde. Für Tapeten verwandte er außerdem auch viele Blumenmotive und Wassermotive aus der Mark.

Das Beste in dieser seiner kunstgewerblichen Art sind ohne Zweifel seine Teppiche, zu denen ich nicht nur die gewebten, fertig ausgestatteten, sondern auch die mit Farben auf Leinwand gemalten, dekorativen Entwürfe zähle. Auf diesen Teppichen spielt auch außer den vorhergenannten Motiven der Vogel eine große Rolle. Das ist das einzige lebende Geschöpf, welches Leistikow, nachdem er von der Staffage ab gesehen hatte, in seinen Arbeiten verwendet hat, aber nur im dekorativen Sinne. Schwäne, Reiher, Raben, die schon nach ihrer eigenen Form zu den größten Vogelarten gehören, beherrschen, von ihm verwandt, eine ganze Bildfläche. Mit weit ausgebreiteten Flügeln schweben sie dahin über Waldabhänge, Seen oder phantastische Felsen.

Von dieser vielfachen künstlerischen Beschäftigung war aber sein Leben nicht allein ausgefüllt. In Berlin überall, sowohl in den Ausstellungen[41] am Lehrter Bahnhof sowie im Künstlerverein, mehrten sich die Differenzen zwischen den Jüngeren, d.h. denjenigen Künstlern, die weiter streben wollten und mit offenen Augen wahrnahmen, was in der Welt auch von andern Künstlern geschaffen wurde, und den Älteren, d.h. denen, welche für sich allein Vorteile einheimsen wollten und am liebsten außer sich selbst auch ganz Berlin und ganz Preußen die Augen mit undurchsichtigen Binden verdeckt hätten, um nichts Fremdes in ihrer Wirkungssphäre aufkommen zu lassen. Am einschneidensten für jene Zeit und noch bis jetzt nachwirkend war »die Affäre Munch«. In diesen kunstpolitischen Angelegenheiten tat Leistikow wacker mit, und am besten wird es sein, mit dem Bruchstück eines Artikels, den Leistikow in der schon vorher erwähnten »freien Bühne« geschrieben hat, diese Zeit zu charakterisieren. Leistikow hatte diesen Artikel nicht unter seinem eigenen Namen geschrieben, sondern unter dem durchsichtigen Pseudonym Walter Selber.

Wenn man sich nach Herzenswunsch einen Namen wählen kann, wie man ihn haben will, so wird stets ein ganzes Stück eigner Persönlichkeit aus dieser Wahl zu ersehen sein. Bei Leistikow trifft dieses nun völlig zu: für ihn war Selbständigkeit immer die Devise gewesen und diese Namensunterschiebung zeigt es wieder von Neuem, wie furchtbar ernst es ihm darum zu tun war.

Greifen wir aus dem Artikel, der die Zustände des Vereins Berliner Künstler zu jener Zeit meisterhaft beleuchtet, die Hauptsache heraus:


»Nicht meine Aufgabe wird es hier sein, zu erzählen, was alles in jener Versammlung gesagt und gesprochen, noch was alles dem traurigen Beschlusse, der Schließung der Munchschen Ausstellung, vorangegangen, darüber haben die Tagesblätter, mein ich, genugsam geschrieben und fabulieret. Nur in Kürze einige Worte zur Klärung.Ausgehend von dem Gedanken, daß frisches Blut, frisches Leben fördernd und nützlich, hatte die Ausstellungskommission des Vereins Berliner Künstler im September den Beschluß gefaßt, den Norweger Munch zur Beschickung der Ausstellung im Architektenhause einzuladen. Es machte sich gerade so. Es war da ein Landsmann des Munch in der Kommission, der wußte von ihm und seinen Erfolgen in Christiania. Künstler mit Urteil und Geschmack hatten sich voller Anerken nung über ihn geäußert. Der freundlichen Einladung folgt der Nordländer, Anfang November kommt er samt den Bildern nach Berlin. Die Rotunde, dieser sogenannte Ehrensaal, den für gewöhnlich die unschuldigsten, sanftesten Bilder zieren, Bilder, die sich ganz wohl im Halbdunkel fühlen – sie haben dann einen so ruhigen, behaglichen Ton – die Rotunde also wird dem Gaste eingeräumt und selber schaltet und waltet er dort, hängt und plaziert seine Bilder nach seinem Gefallen.

Manch einer der Kommission mag wohl verblüfft dagestanden und erstaunt sich die Augen gerieben haben, ob des Werkes, das da entstand, so fremdartig, so neu dem Berliner. Als aber alles vollendet war und der Meister sich freute des Geschafften, da drängten sich die von der Zunft um die Bilder, erregt und hitzigen Sinnes. Das sollte Kunst sein! O Elend, Elend! Das war ja anders, als wir es malen, das war neu, fremd, abstoßend, häßlich, gemein! Hinaus mit den Bildern, raus, raus.– –

Und die Erregung verdichtete sich und kam nieder mit einer entsetzlichen Torheit, überschnell, übereilt, von den Meisten sehr bald wohl bereut, doch zu spät. Ein Antrag wurde formuliert und unterzeichnet, der Herr Vorsitzende des Vereins möge baldigst die Schließung der Ausstellung veranlassen. Und da dies nicht möglich dank Statutsparagraphen, kam gleich der zweite Antrag auf Einberufung der Generalversammlung zwecks Maßregelung der kunstschändenden Kommission, die solches vollbracht.

Was war es denn nur, was die berühmtesten Vertreter berlinischer Kunst, der spießbürgerlichen ein schläfernden, so in Harnisch brachte vor diesen Bildern? Ich fürchte, ich fürchte, wäre da nicht manch ganz kleines persönliches Motivchen mitunterlaufen, ganz allein hätte Munch[44] das doch nicht fertig gebracht mit seinen kühnen Farbensymphonien. – Man hat viel hin und her gestritten, gesprochen, wie viel besser es doch gewesen wäre und werter eines Künstlers, der das, Erkenne Dich selbst' beherzigt, wenn Munch statt der Fünfzig eine kleine Auswahl des Besten gegeben, etwa fünf oder sechs, sogar, wenn es sein mußte, zehn Bilder, die unantastbar und eine gewisse schüchterne Verbeugung fast jedem abnötigten, der nicht mit ganz blöden oder gehässigen Augen herantritt an alles, das ein wenig anders geartet als die Fahne, zu der er selber geschworen. Mich aber freuten nun gerade die Fünfzig, die Guten und Schlechten zusammen, und keines mochte ich missen von ihnen. Gerade die Totalität, dies ganz Umfassende, dies alles Gebende, dies nichts Verheimlichende noch Verbergenwollende gibt uns den Mann, wie er ist. Hier Arbeit, hier Mühe, hier Gunst des Augenblicks, hier Gelingen und Vollbringen – dort Verfehltes, dort ungelöstes Hoffen und Wünschen, dort Steine statt Brot, dürre Disteln statt duftender Blüten. So nur konnte diese Ausstellung diesen Eindruck machen, den ich an mir mit Befremden, aber auch mit Freuden bemerkte und dem sich völlig wohl niemand entziehen konnte.

Hier sprach eine Persönlichkeit, laut, vernehmlich, mit tönen der Stimme, ein Individuelles, Zwingendes lag darin. Nicht liebenswürdig, nicht höflich immer, aber gerade und offen, wie es für einen Mann sich ziemt, der wohl sich bewußt ist, daß auf dem weiten Wege, der vor ihm liegt, die Wahrheit am schnellsten zum Ziel führt.

[45] Fern liegt es mir, alles loben, mit allem sympathisieren zu wollen. Blätter gab es genug, die auch mir verfehlt und schlecht erschienen, aber unbedeutend keines; aus jedem noch sprach vernehmlich ein vornehmer Wille!

Und die einzelnen Guten? Da waren Sachen dabei, so schön, so tief, so innig, so mit ganzer Seele geschrieben, aus ganzer Seele geschrieben: vor allem einige der Porträts, auch von den landschaftlichen Stimmungen dies und jenes. Aber am meisten doch liebe ich diese dämmernden Interieurs, so heimlich und lauschig. Durch das große Fenster blitzt und flutet bläuliches Mondlicht, draußen der Fjord mit Booten und Dampfern weit fort, ein Traum nur, Hauch – Ton – Musik – hier innen ein Einsamer still in die Ecke des Sofas gedrückt, die brennende Zigarette im Munde, oder das Mädchen am Fenster im weißen Gewande, von unten der Straße spielt matt ein Lichtreflex der Laternen hier hinein in den Dämmer, oder dort im Dunkeln die beiden, die sich umschlungen im Kusse. – Das ist gesehen, das ist erlebt, das ist empfunden! Wer solches sprechen kann, oder malen, oder singen, wie soll ich es nennen, in dem lebt eines Dichters Gemüt, mit Dichters Augen schaut er die Welt, die er liebt. Aber große Dichter und Maler werden im Anfange selten verstanden, selten geehrt. Sie können noch froh sein, wenn man ihnen nicht die Tür weist und sie höflich an die Luft setzt wie Herrn Munch.

Soweit aber wäre es wohl kaum in der Generalversammlung gekommen und auch die Antragsteller selbst hatten kaum mehr ernstlich hieran gedacht. Da stand ihnen ein Helfer auf, ein streitbarer Krieger, Herr von Werner, der von seinem erhöhtem Platze mit klugen Augen das ganze Terrain übersah, wägend Freund und Feind und ihre Stärke mit einander messend. Mochten seine Augen heut trüb sein, oder blendeten ihn die hellstrahlenden Gaskronen, genug, er dürfte die Zahl derer überschätzt haben, die gegen Munch stimmen wollten, sonst hätte er kaum so sichtbar sich auf die Seite einer so geringen Majorität gestellt. Ihm vor allem muß man die Schuld zuschreiben an dem Ausgange. Er nur allein hat an jenem Abende die Frage aufgeworfen: ist die Ausstellung zu schließen oder nicht?

[46] Doch nicht um Munch und seine Ausstellung hier handelte es sich jetzt, um etwas Größeres, Weiteres.

Soll es erlaubt sein, Künstler, die feierlich vom Verein durch die betreffende Kommission eingeladen, ohne weiteres wieder an die Luft zu setzen, weil Hans und Kunz anderer Meinung, weil sie aus irgend einem Grunde ärgerlich sind auf dieses und jenes Bild? Ist es jedem Beliebigen gestattet, wenn er nur einige Leute hinter sich hat, die mit ihm stimmen, der Kunst eine Grenze zu stecken, zu sagen, bis hierhin und nicht weiter?

Nein, dieses Votum des Vereins war nicht nur unhöflich gegen den geladenen Gast, es war abgeschmackt, kurzsichtig und gefährlich für die Entwicklung der Kunst im höchsten Maße. Ein Trost ist es freilich, daß die Majorität eine so geringe war, 120 gegen 105 Stimmen. Aber daß es überhaupt möglich gewesen, ist ein wenig erfreuliches Zeichen, ein Fleck, den der Verein Berliner Künstler sobald nicht wieder herauswaschen wird aus seinem Schuldbuch. Nie in all den Jahren seines Bestehens gab es je solch lärmende Versammlung im Künstlerverein. War es schon anfangs den einzelnen Rednern schwer geworden, sich verständlich zu machen, zu Worte zu kommen in all dem Getrieb und Getöse: jetzt, nachdem die Abstimmung bekannt, da gab es kein Halten. Auf Köppings Anregung verließ die Mehrzahl derer, die gegen jenen Antrag gestimmt, den Saal, um möglichst nachdrücklich zu zeigen, wie wenig man gemein haben wolle mit jenen, wie sehr die Ansichten auseinander gingen über das, was zuträglich der Kunst, was Sitte und höfliche Gastfreundschaft erheischten. Seither spricht man von einer Secession der Berliner Künstlerschaft. Das sozialistische Prinzip ist ein treffliches Schutz- und Trutzmittel für die Nummern. Daher ist es wertvoll für alle Vereine. In jedem Verein ist die Herde groß, wenige nur stehen abseits, der eigenen Kraft trauend. Jetzt weiß auch Jedermann, wie gut der Sozialismus für den Künstlerverein ist.

Schon früher hörte man oft das Wort: ›Sozialisten‹ drüben im Künstlerhause, die es aber aussprachen, das waren die Nummern, mit dem Wort meinten sie die wenigen einzelnen, die Jungen, Kräftigen, die an sich selber glauben konnten.[47] Es ist dies aber eine Lüge und Verdrehung der Wahrheit. Wenn man überhaupt schon das unpassende Wort brauchen will, dann muß man sagen, gerade die Alten, die sich selber so konservativ glaubten, die in blinder Wut rebellierten gegen die Munchsche Ausstellung, sie vertraten das sozialistische Element in der Künstlerschaft. Nur allein dank diesem Prinzipe der Gleichheit und Brüderlichkeit konnte es dahin kommen, daß die Nummern die Künstler vergewaltigten und siegten.«


Das war der große Krach am 12. November des Jahres 1892 im Verein Berliner Künstler, der zu jener Zeit noch eine obere Etage im Architektenhaus in der Wilhelmstraße innehatte. Den drei Parteien erwuchsen aus dieser Fehde nur Vorteile: die Nummern oder Alten hatten einen Pyrrhussieg zu verzeichnen, indem sie das Ärgernis herauswarfen und einstweilen weiterwurschteln konnten; die Jungen konnten ihren Haß gegen die Reaktion verstärken und sich in ein noch helleres Licht als Märtyrer der Kunst setzen, und das Karnickel, um den die ganze Balgerei ging, Eduard Munch, hatte den allergrößten Vorteil: Er war urplötzlich der berühmteste Mann im ganzen Deutschen Reich; die Kollektion ging sofort nach München und von da in die andern großen StädteDeutschlands; von da ab hat dieser ausländische Künstler bis auf den heutigen Tag die meisten seiner Bilder hier an deutsche Mäcene verkauft.

Aber immerhin ist Deutschland durch Munch an keinen Unrechten gekommen. Seine Kunst ist eine wahrhaftige, und er besitzt noch heute im Jahre 1910 eine solche Herrschaft über die Jungen, daß sein Einfluß und seine Art in den Werken der jüngeren Generation deutlich, oft leider nur zu deutlich, zu merken ist. So böse sich die Nummern und die Jungen auch waren, so fand niemand es gut, sich vor der Hand von einander zu trennen. Die Sommerausstellung am Lehrter Bahnhof versammelte sie alle unter einem Dache; die Gerechten und die Ungerechten, die Schafe und die Böcke. Aber der ferne Donner kam grollend immer näher und ein kleinerer Zusammenstoß kann einen größeren Bruch bringen als die Zerwürfnisse vorher.[50]

Quelle:
Corinth, Lovis: Das Leben Walter Leistikows. Berlin: Bruno Cassirer, 1910, S. 29-37,39-51.
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