Gesichtsausdruck und Bewegung.

[159] Nächst der malerischen Gesamtwirkung wird der Ausdruck der Figuren in den Bildern die größte Aufmerksamkeit erregen. Es ist von jeher auf dieses Detail der größte Wert gelegt worden; von Leonardo da Vinci und Hogarth, die besonders den physiognomischen Ausdruck betonten, erzählt man heutzutage noch Wunderdinge.

Es ist der schwierigste Teil des Bildes, den richtigen Ausdruck des Menschen auf die Leinwand zu bannen. Es gehört dazu Schnelligkeit der Auffassung, Menschenkenntnis sogar, und das eigene Talent, Menschen zu zwingen, den gewünschten Ausdruck als Vorbild in ihrem Gesicht zu zeigen.

Auch in dem regungslosesten Antlitz leuchtet Ausdruck hervor; dieser ist nicht die Äußerung eines Gemütsaffektes, sondern vielmehr[160] die Widerspiegelung des Charakters. Deshalb werden in dieser Art meistens die Bildnisse aufgefaßt.

Das Gesicht wird durch seelische Erregungen in vollständig neue Formen gewandelt.

Für die Kunst sind nur die elementaren Ursachen von Bedeutung: Freude, Trauer, Schmerz, Wohlsein, Angst, Bewegungen des Lachens, Weinens, Schreiens.

Lessing schreibt im Laokoon: »Es gibt Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Verzerrungen äußern und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigeren Stande umschreiben, verloren gehen.

Dieser enthielten sich also die alten Künstler (antiken) entweder ganz und gar, oder setzten sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von Schönheit fähig sind.

Wut und Verzweiflung schändete keines von ihren Werken. Ich darf behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben.«

Ferner etwas Richtiges: »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick brauchen, so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick nicht fruchtbar genug gewählt werden kann. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick unvorteilhafter, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt Phantasie die Flügel binden etc.«

Lessings Laokoon ist nicht mehr ganz maßgebend in heutiger Zeit. Viele seiner Gedanken haben sich überlebt, aber er ist es immer noch wert, in Mußestunden gelesen zu werden; schon um zu lernen, wie sich Kunsttheorien in dem Geiste dieses großen Mannes widerspiegelten.

Die Kunst war zu den Zeiten unserer drei größten Dichter in Deutschland fast ganz verschwunden; gerade deshalb ist es[161] interessant, mit welchem gewaltigen Instinkte sie es verstanden, Malertypen, die sie in ihren Dramen auftreten ließen, wahrscheinlich und richtig darzustellen: Lessing in »Emilia Galotti«. Noch viel mehr zeigt es Schiller in »Fiesko«. Diese einzige kleine Szene mit dem Maler Romano zaubert den ganzen Postrafaelitismus mit allen Süßmeiereien, wie sie Guido Reni, Dolci, die Caraccis trieben, wieder lebendig herauf.

Und Goethes Verständnis? Ihm ging nichts über diese Italiener nach Rafael; das Genie eines Rubens erklärte er seinen Freunden an Kupferstichen.

Sein Vater hatte Bildern gegenüber entschieden die weit größere Klarheit in der Beurteilung: Goethe schildert in »Wahrheit und Dichtung«, wie sein Vater ein Stilleben, das einfach nach der Natur gemalt war, nur deshalb einem viel reicher komponierten vorzog, weil jenes auf einer ausgetrockneten Holzplatte aus seinem Besitz gemalt war. Das ist des Sohnes Ansicht.

Sollte der Alte nicht gefunden haben, daß dieses Werk weit unmittelbarer und frischer – weil einfach nach der Natur gemalt – war, und deshalb auch weit künstlerischer als das zweite, wo der Maler Vögel und allerlei anderen Krimskrams noch aus seinem Gehirn dazu gehäuft hatte? – – –

Kehren wir von diesem kleinen historischen Ausflug wieder zu unserem Thema zurück.

Nur die rein menschlichen Gemütserregungen spiegeln sich ohne Kommentar auf den Gesichtern wieder.

Ratsam ist es, den Ausdruck so zu erwählen, daß noch eine Steigerung in der Zunahme oder eine weitere Abflauung im Abnehmen des Affektes möglich ist. Bringt man den Ausdruck auf den höchsten Punkt, so wird er leicht zu einer versteinerten Fratze. Der ganze Körper macht selbstverständlich die Empfindungsgrade mit; und auch deshalb schon ist das Gefühlsniveau in dem Werden oder Schwinden zu gestalten, weil auch auf andere Bewegungsmotive hingewiesen werden muß.[162]

Es wäre denn, daß man eine Gemütsäußerung als Motiv in all seinen Stadien im Bilde darstellen will. Z.B.: das »Lachen«. Hier werden dann alle Nuancen bis zu dem höchsten Affekt geschildert werden müssen.

Es soll nicht vergessen werden, daß die Affekte nach dem Modell zu malen sind, da die malerische Wirkung das Ganze lebendig erhält, während es aus dem Kopf gemalt zu einem Schema und Ornament heruntersinkt.

Ist aber der Affekt nur ein Nebenmotiv im Bilde, so soll man sich wohl hüten, die meisten Äußerungen, z.B. Lachen, auf der[163] höchsten Stufe darzustellen; nur der Schmerz, das Weinen, macht hierin eine Ausnahme. Das Weinen ist der viel edlere Ausdruck; es kann wohl in seiner tiefsten Tiefe geschildert werden.

Der Grund für diese Möglichkeit der Darstellung ist die längere Zeitdauer dieses Ausdruckes gegenüber dem Lachen, und ferner wirken die Tränen auf den verzerrten Mienen schon ausgleichender.

Ein viel gebrauchtes Moment ist der Ausdruck des Wahnsinns; er wird durch spezifisches Augenverdrehen, mit Hinzunahme von erklärenden Attributen, abgefunden.

In künstlerischer Beziehung sind zwei Arten zu unterscheiden: der darstellbare Wahnsinn und der undarstellbare.

Der von Shakespeare geschilderte, welcher die Folge unerträglicher Katastrophen und Leiden ist (König Lear); und der medizinische: Entstehung aus körperlicher Notwendigkeit (Ibsen.)[164]

Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, welche Art von den beiden die künstlerisch darstellbare ist.

Mir dem Ausdruck des Gesichts gehen die Bewegungen der Glieder (namentlich der Hände) und des Rumpfes Hand in Hand.

Das menschliche Auge sieht in einer darstellbaren Bewegung nur die Summe vieler kleiner Bewegungen. Es ist die Sache des Künstlers, den richtigen Punkt dieser vielen Bewegungsmomente zu fixieren.

Rein körperliche Bewegungen sind auf das Resultat der Anstrengung hin zu äußern. Als Beispiel ein Mann, der einen Stein wirft.

Man wird den Moment zur Darstellung bringen müssen, der sich vollständig mit der Aufgabe deckt. Es ist eigentlich nie der Augenblick der Aktion, wo der Wurf geschehen ist, denn in diesem Moment würde das Wurfsobjekt (der Stein) scheinbar in der Luft kleben bleiben, sondern der Bewegungsanfang oder das abwartende Moment, wo bereits die Anstrengung beendet ist und der Erfolg beobachtet wird.

Durch die photographischen Momentapparate werden oberflächlich Beobachtenden viele Enttäuschungen bereitet, weil sie glauben, derartige Erzeugnisse blindlings ausnützen zu dürfen.

Dem ist aber nicht so: diese Produkte sind nur ein Moment der Bewegung, und wir – nach meiner Schilderung – bedürfen der Summe mehrerer Bewegungsmomente.

Es wird heute durch diese Hilfsmittel ebenso falsch gearbeitet, durch Nachbildungen dieser Photographien, wie früher, wo die galoppierenden Renner gleich Schaukelpferden alle viere von sich streckten.

Aber die Momentphotographien haben das Gute gehabt, in das Studium der Bewegungsphasen Klarheit gebracht zu haben.

Kommt man von der Bewegungstheorie einer Figur auf die von mehreren, so wird dieses Thema wieder mit dem Kompositionellen verquickt. Es bilden sich Gruppen, die in der verschiedensten[165] Art gehandhabt werden können: Viele Figuren können durch die Verschiedenheit ihrer Bewegungen – indem jede eine bestimmte Phase aus der ganzen Bewegung vertritt – desto bewegter scheinen und dadurch eine Gruppe als aufgelöst, nur lose zusammenhängend zeigen, wie z.B. Mäher eines Getreidefeldes. Sämtliche Mähenden können verschiedene Stufen aus der ganzen Bewegung des Mähens vertreten. Das Bild wird desto lebendiger in diesem Fall wirken.

Wiederum wird eine Gruppe in eine geschlossen monumental wirkende verwandelt, sobald die Figuren zusammen nur eine Bewegung zeigen, z.B. die Ährenleserinnen von Millet.

Jedenfalls ist bei Bewegungsgruppen ein feststehendes Objekt als Kontrast zu empfehlen. Aus der Natur könnte man das Gleichnis nehmen: Wogende Wellen, die um einen in die See gebauten Steg toben. An diesem Steg wird das Wasser weit[166] bewegter erscheinen eben wegen des Kontrastes, den die feststehende Brücke bietet, als weit weg zu beiden Seiten, wo das Auge nicht mehr den Vergleich hat.

Auf meinem Bilde. Die Frauenräuber (Seite 164), das sowohl für den Ausdruck wie auch für die Bewegung ein Beispiel sein soll, zeigt sich diese Behauptung in der Ruhe des Pferdes zu den bewegten Menschen.

Daß man auch eine andere Auffassung haben kann, sehen wir in dem ähnlichen Motiv, einem Bilde von Rubens in der Münchener Pinakothek; hier bewegt sich alles.

Dennoch aber ist der Kontrast eines der wichtigsten Mittel, um eine Darstellung auf Bildern lebendig und frappant wiedergeben zu können.

Quelle:
Corinth, Lovis: Das Erlernen der Malerei. Berlin: Bruno Cassirer, 1920, S. 159-167.
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