Der Anfang

[9] Die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren für das Rheinland verhängnisvoll geworden. Unter den Hammerschlägen der Französischen Revolution begannen die Stützen des alten Staatenbaues zu sinken. Unordnung und wüster Streit erfüllten das schöne Land, und mancher Mann, der dort zu Hause war, entfremdete seiner Heimat.

So auch mein Vater. Von Rom, wo er als Maler seine Studien beendet hatte, zog es ihn nicht zurück nach seinem Vaterlande, vielmehr wandte er sich infolge der Einladung eines Freundes dem Norden zu. Da lernte er in Reval meine Mutter kennen, gewann ihre Hand und zog mit ihr nach Petersburg, wo er viel Arbeit fand.

Aus dieser Ehe bin ich das zweite Kind, da meine Eltern kurz vor meiner Geburt ein älteres Töchterchen verloren hatten. Nach den Erzählungen der Mutter und noch vorhandenen Bildern glich die verstorbene Schwester einem überirdischen kleinen Wesen, wie man das wohl bei Kindern findet, denen ein kurzes Lebensziel gesteckt ist. Sie ist auf dem ländlichen Gottesacker bei Pawlosky begraben, und auf den kleinen Hügel setzten die Eltern ein Kreuz mit dem Namen »Maria«.

Doch war ihr Gedächtnis nicht mitbegraben und lebte namentlich in der Erinnerung der Mutter so lebhaft fort, als sei sie nie gestorben. Ja, mehr als ihr Gedächtnis: die selige Schwester selbst soll ab und zu noch segnend in den Kreis der Familie eingetreten sein. Wenigstens erzählte meine Mutter des öftern, wie bald nach der Geburt ihrer jüngeren Kinder eine Lichtgestalt erschienen sei und die neuen Ankömmlinge umleuchtet und begrüßt habe. Diese Erscheinung hatte in der sichtbaren Welt nichts Analoges; dennoch erkannte die Mutter ihr heimgegangenes[9] Kind. Sie hatte sich ja die Selige als Schutzengel erbeten für die Kinder, die durch Gottes Gnade etwa folgen sollten, und zweifelte an der Erhörung ihrer Bitte nicht.

Dem sei nun wie ihm wolle, die Mutter hatte nach der Geburt meiner jüngeren Schwester sogar noch eine Zeugin für dieses liebliche Erlebnis, indem die Wärterin, die allein mit ihr im Zimmer war, dasselbe sah. So war denn oft die Rede von der Dahingeschiedenen, und wohl erinnere ich mich, daß ich als kleiner Junge manche Übertretungen mied, um den Engel nicht zu betrüben, der mir beigegeben war.

Als ein sehr unzulänglicher Ersatz für dieses Himmelskind ward ich am 20. November des Jahres 1802 in Petersburg geboren, und zwar zur Unzeit, indem ich dem Programme meiner Mutter um zwei Monate zuvorkam: ein Umstand, der auf meine spätere Entwicklung nur nachteilig influieren konnte.

Getauft ward ich am 9. Dezember desselben Jahres durch den Dr. Hammelmann, Pastor an der lutherischen St. Petrigemeinde. Zwar war mein Vater Katholik; aber vollständig gleichgültig gegen alle Unterscheidungen in Gebrauch und Lehre der christlichen Welt, hatte er bei seiner Verheiratung keinen Anstand gefunden, zu versprechen, sämtliche Kinder dem Bekenntnisse der Mutter folgen zu lassen. Als nun das geweihte Wasser meinen kleinen Kahlkopf überströmte, faltete ich die Hände wie ein alter Christ, zur Erbauung meiner guten Mutter, die hierin ein Amen für die Bitten sah, welche sie für mich zum Himmel sandte. Ich empfing die Namen Wilhelm Georg Alexander, letzteren zum Gedächtnis jenes jugendlich liebenswürdigen Kaisers, welcher kaum ein Jahr vor meiner Geburt den russischen Thron bestiegen und die Hoffnung aller dortigen Menschenfreunde belebt hatte.

Mein Vater hatte unterdessen, den Aufenthalt in der reichen Stadt sowie die Gunst damaliger Verhältnisse gewissenhaft benutzend, in wenig Jahren ein Vermögen erworben, das ihn zum selbständigen Manne machte. Nun aber auch des Treibens müde und der lästigsten Art künstlerischer Tätigkeit, des Porträtierens, herzlich satt, gedachte er der Früchte seines Fleißes froh zu werden und fürs erste mit den Seinigen an den Rhein zu gehen, um seine Mutter zu besuchen, die dort noch lebte. Wo man sich endlich bleibend niederlassen würde, stand in den Sternen: die Umstände sollten es entscheiden.

Das war ein guter Plan, nicht zu weit und nicht zu enge; doch hatte die Trennung von Petersburg auch ihren Stachel. Mein Vater lebte dort in einem Kreise der vorzüglichsten Menschen, unter denen er nicht wenig wahre Freunde zählte; vor allem aber lag sein Zwillingsbruder ihm am Herzen, der ihm aus brüderlicher Liebe nachgezogen war und jetzt allein[10] zurückbleiben mußte, weil er mittlerweile als Kaiserlicher Kabinettsmaler angestellt und für den Hof beschäftigt war. Man hoffte indessen, wenn erst jener gute Plan zur Reife gekommen, sich auf eine oder die andere Weise wieder zu vereinen, und meine Eltern traten ihre Reise an.

So kam es, daß ich meinen Geburtsort schon nach einigen Monaten wieder verlassen mußte und in einem Alter auf Reisen ging, da andere Kinder etwa erst geboren werden.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 9-11.
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