Die Reise nach dem Norden

[43] Die große Freude, nun auch ein Schwesterchen zu haben, hätte sich uns leicht in Leid verkehren mögen, denn die Mutter erkrankte sehr bedenklich und erholte sich nur langsam. Bei so bewandten Umständen erklärte unser Arzt und treuer Hausfreund, der Dr. Pönitz, die russische Reise vorderhand für unausführbar und verordnete statt dessen den Gebrauch der Radeberger Eisenquelle.

Nun traf es sich, daß meine Eltern in letztvergangener Zeit die Bekanntschaft einer Familie gemacht hatten, welche ein Abdruck der unserigen war. Der Senator Dr. W. Volkmann aus Leipzig – (Sohn des bekannten[43] Reisenden in Italien) – war in Geschäften seiner Stadt für längere Zeit nach Dresden delegiert und hatte Frau und Kinder mitgebracht, zwei Knaben in meinem und meines Bruders Alter und ein Schwesterchen, das etwa mit dem unserigen zugleich geboren war. Die Mutter Volkmann, mit der meinigen gleich alt, hieß »Tugendreich«, und dieser Name war gut angeschlagen, da Frau Tugendreich nicht arm an allen besten Eigenschaften war. Der Vater Volkmann seinerseits war, wie der meinige, ein Zwilling, mit ihm in einem Jahr, in einem Monate und fast auf einen Tag geboren. Sie hatten auch in einem und demselben Jahr geheiratet, und ihre Hochzeitstage lagen sich so nah, daß sie sie miteinander feiern konnten. Zu solchen Ähnlichkeiten kamen endlich noch die wesentlicheren des Geschmackes und der Gesinnung, daher sich zwischen beiden Familien ein genußreicher Umgang gestalten konnte, der bald in treue und ausdauernde Freundschaft überging.

Da nun die Mutter Volkmann, in gleicher Lage wie die meinige, von ihrem Arzt zu gleicher Radeberger Brunnenkur verurteilt ward, so beschloß man, gemeinschaftliche Sache zu machen, und mietete sich nicht im Badeetablissement selbst, sondern im benachbarten Lotzdorf ein. Das gab doch wenigstens eine Reise von anderthalb Meilen, ein gut Stück Weges nach Norden hin, und da es nicht anders sein konnte, immerhin einen annehmbaren Ersatz für die aufgegebene größere.

Unser dottergelber Reisewagen ward nun hoch bepackt mit allem Nötigen, mit Koffern, Waschen und darüber hingeschnallten Bettsäcken; vier Pferde wurden vorgelegt, und die ungeheure Maschine setzte sich in Bewegung, in ihrem Innern die beiden Frauen mit ihren sechs Kindern, die Venus und ein Mädchen auf dem Bocke, der Postillion im Sattel, und die Väter blieben mit dem Versprechen zurück, uns zu besuchen, sooft sie könnten.

Wir Kinder waren selig wie die Götter und segne ten den tiefen Sand der Heide, durch welchen der schwere, in seinen hohen Federn schwankende Wagen sich nur mühsam durcharbeitete, denn er verlängerte das außerordentliche Vergnügen des Reisens. Wir fanden uns in einer neuen Welt. Die nordische Landschaft des rechten Elbufers war uns noch fremd, und unsere Spannung steigerte sich, je tiefer wir in die Dunkelheit der Kiefernwälder eindrangen. Das war der rechte Ort für Außergewöhnliches. Was konnte man nicht alles erleben und zu sehen kriegen, vielleicht wilde Schweine, und unter glücklichen Umständen – wer wollte wissen und ermessen, was noch sonst![44]

Es zeigte sich indessen gar nichts, die Erfahrung etwa abgerechnet, daß keine Rose ohne Dornen ist. Der jüngere Volkmann nämlich war nach und nach verstummt und nachdenklich geworden. Dann bekam er einen fatalen magenverderblichen Ausdruck, legte den Kopf in den Schoß der Mutter, und das übrige wird man sich denken. Es war entsetzlich! Das Schaukeln des Wagens hatte seine Kraft gebrochen, das Übel steckte an, man mußte halten, und der stumme Wald vernahm das Angstgestöhn der Menschenkinder. So war die kleine Reise ein rechtes Lebensbild: mit Übermut begonnen und mit Angst beendet; aber der Himmel folgte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 43-45.
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