Die Harzreise

[93] Nach etwa vierzehntägigem Aufenthalt in Halle sollte unsere Wanderschaft mit einer Tour in die Berge beschlossen werden, auf welcher Senffs alter fünfundsiebzigjähriger Vater wie auch der Bruder Professor uns begleiteten, so daß wir gerade einen Wagen füllten.

Professor Senff war ein ziemlich wohlbeleibter, etwas pockennarbiger, jovialer Mensch mit breiter Brust und kurzem Halse, einer von denen, die gerne in Hemdärmeln sind und niemals ein Halstuch umlegen und den Hut auf dem Stocke tragen, ein guter Schwimmer und rüstiger Fußgänger. Er war voll Witz und guter Laune und hatte mich so in der Gewalt, daß ein Blick genügte, mich zum Ausplatzen zu bringen. Wenn er wollte, konnte er entsetzlich dumm aussehen, und diese Dummheitsflagge[93] steckte er auf, wenn die Gesellschaft im Wagen stumm und faul ward; dann brach alles in Lachen aus. Auch konnte er zwei Schock Kirschen essen, ohne die Kerne auszuspucken; dann aber zählte er diese wieder aus dem Munde, und siehe da, es fehlte keiner. Dieses Kunststück nachzumachen, bemühte ich mich die ganze Reise, brachte es aber nicht weiter als bis auf zwanzig, und hintennach taten einem noch die Backen weh.

Wir fuhren über Mansfeld und machten Mittag auf dem alten Grafenschlosse, wo damals, in westfälischen Zeiten freilich, nur ein Gastwirt hauste. Von der geschichtlichen Bedeutung der Mansfelder Grafen hatte mir Senff das Nötige gesagt, so daß ich nicht ganz unvorbereitet die einfachen, halbverfallenen Räume ihrer ehemaligen Residenz durchwanderte. Ganz besonders interessierten mich die Souterrains, die weitläufigen Keller und Gänge, in denen wir bei Lampenlicht umherirrten. In dem großen Gewölbe unter der Kirche, wenn ich nicht irre, der ehemaligen Grabstätte der Grafen, hatte ich mich, den anderen voraneilend, etwas zu weit vorgewagt, als mich ein »Halt, junger Herr!« des Führers andonnerte, und noch zu rechter Zeit erwischte mich Professor Senff beim Kragen, sonst wäre ich wie Hamlets Geist versunken und in einen Schacht gestürzt, der dicht vor meinen Füßen steilrecht in die Tiefe ging.

Dergleichen Löcher sollte es, nach Aussage des Führers, in diesen Kellern viele geben, um tieferliegenden Gängen, deren Ende man nicht kenne, Luft zuzuführen, und die Vorstellung einer so endlosen unterirdischen Welt, die selbst den Bewohnern des Schlosses unbekanntes Land war, erfüllte mich mit ehrerbietigem Staunen. Überhaupt war mir's auf dem Mansfelder Schlosse, der ersten alten Burg, die ich zu sehen bekam, gar wundersam zumute, als sei ich der Gegenwart entrückt, als berühre mich eine längst verflossene, aber große Zeit mit geisterhaftem Flügelschlage und schlösse mich in träumerische Umarmung. Mit einer mir bis dahin unbekannten, nach dem, was unwiderruflich vergangen war, zurückgerichteten Sehnsucht verließ ich zögernd, noch oft mich umblickend, die altersgrauen Mauern des berühmten Schlosses.

Nicht minder haben sich mir, wenn nicht die Begebenheiten, doch die Gemütseindrücke der übrigen Reise eingeprägt. Ich sah das erste Gebirge, stand hoch auf dem Brocken, weit aufatmend über Nebel und Wolken, und stieg, durchrieselt von den Schauern der Unterwelt, hinab in die kristallenen Eingeweide der Erde.

Wie lebhaft Kinder doch empfinden mögen! Ich habe das später alles ohne sonderliche Emotion wiedergesehen und namentlich kaum begreifen können, wie das feuchte, dunkle Loch der Baumannshöhle mir damals[94] einen so mächtigen Eindruck machen konnte. Aber freilich war das alles auch unendlich schöner und charakteristischer als jetzt. Der Harz war noch ein abgelegenes Waldgebirge mit umgebauten Wegen, die sich malerisch durch die Täler zogen. Geradlinige Chausseen mit schattenlosen Obstalleen oder gar, wie heutzutage, Schienenwege gab's noch nicht. Im Bodetale sah man weder Kellner noch Hotels, man hörte dort noch nichts vom Lärm der Kegelbahnen, und kein Konditor hatte sich unter jenen Felsenhängen angesiedelt. Unverziert und unverschnörkelt stand der Falkenstein noch in seiner ursprünglichen Einfalt da, und die Tropfsteinwände der Höhlen, jetzt geschwärzt vom Dampf der Feuerwerke, waren rein und weiß wie Zucker. Man reiste freilich unbequemer, aber ebendeswegen mit reichlicherem Genuß; denn mit dem Preise, den wir dafür zahlen, steigt der Wert der Dinge.

Der letzte Ort am Harz, den wir berührten, war Ballenstedt. Gleichgültig sah ich das weiße Schloß mit seinen Gärten an, nicht ahnend, daß ich als Flüchtling bald hierher zurückkehren sollte, und noch weniger, welche tief einschneidende Bedeutung dieser kleine Ort einst für mein späteres Leben haben würde.

Von Halle aus ging's dann weiter und ohne Aufenthalt zurück nach Dresden.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 93-95.
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