Napoleon

[98] Da wir nun unsere kleine Sauvegarde im Hause hatten, so dauerte es auch nicht lange, als im Westen schwere Wetterwolken aufstiegen, und schon im Frühjahr 1812 wälzten sich die Heersäulen der krieggeübten französischen Armeen nach Norden. Durch Dresden zogen sie in dichtgedrängten Massen. Noch schweben mir die langen, dunkeln Züge der alten Garde mit ihren stolzen Adlern, hohen Bärenmützen und martialischen Gesichtern wie düstere Traumgebilde vor; vorweg der kriegerische Lärm der Trommeln und Pfeifen, dann die gespenstischen Gestalten der Sappeure mit blinkenden Äxten und langen schwarzen Bärten, und hintennach endlose Reihen von Trossen.

So ging es täglich unter unseren Fenstern durch, Mann an Mann und Brigade an Brigade. Ich bekam fast alle Waffengattungen des großen Heeres zu sehen, die hohen Kürassiere mit beschweiften Helmen und goldenen Panzern, die leichtberittenen Chasseurs, Ulanen, Dragoner,[98] Husaren, Voltigeurs, alle Gattungen von Infanterie und Artillerie mit guter Bespannung, endlich lange Züge von Pontons und Kriegsgerät. Es war eine gar treffliche Armee, wie sie die Welt noch nicht gesehen, wohlversorgt und ausgerüstet mit allem Nötigen; sogar an Winterschuhe hatte man gedacht und an grüne Brillen gegen die Blendungen des Schnees. Endlich sahen wir noch ein ganzes Geschwader von jungen Nähterinnen auf kleinen Pferden folgen, vielleicht um die Soldaten im rohen Rußland vor Verwilderung zu bewahren.

Aber auch die deutschen, spanischen und italienischen Truppen, die dem Machtgebot des Zwingherrn folgten, sahen kriegerisch und trotzig drein. Sie hatten seine Siege mit erfochten, teilten die Ehren seiner Armee und sollten mit dieser auch die letzte Katastrophe teilen.

Zu Anfang Mai erschien Napoleon selbst und empfing, von zahlreichen anderen Vasallenfürsten umgeben, auch die Besuche seiner hohen Verbündeten, des Kaisers Franz und Königs Friedrich Wilhelm. Letzterem begegnete ich bei Gelegenheit eines Spaziergangs auf der Brühlschen Terrasse und schloß ihn gleich ins Herz, weil er so würdig aussah und so traurig und Senff mir sagte, er sei ein guter königlicher Herr.

Es gab überhaupt damals recht viel zu sehen in Dresden. Die Anwesenheit so vieler Kriegsheere erfüllte die Stadt mit kriegerischem Pomp; Glocken und Kanonen spielten zum Empfang der Fürsten auf, großartige Paraden und Manöver unterhielten sie, und bei Nacht erstrahlte die Stadt im Zauberglanze tausendfältiger Lampen. Ich weiß es nicht, ob es bei dieser oder einer anderen napoleonischen Gelegenheit war, daß sich ein von bunten Papierlaternen komponierter breiter Regenbogen in allen Farben des Lichtes vom Elbspiegel aus hoch über die Brücke spannte – das Reizendste, was man von nächtlichen Lichteffekten sehen konnte. Auch Feuerwerk durchprasselte die Luft, Tempel und Namenszüge flammten in Brillantfeuer, und jedenfalls mochte man klug tun, im voraus zu triumphieren, da sich nachher keine Veranlassung mehr dazu finden wollte.

Dabei lagen alle Häuser voll Militär, das fast in allen Zungen Europas durcheinander lachte, sprach und fluchte. Auch wir, obgleich nur Mietsleute, hatten einen General im Quartier, der mit seinem Gefolge fast die Hälfte unserer Räume einnahm, und die bedrängte Mutter erschrak nicht wenig, als sich eines schönen Morgens zum Überfluß auch noch ein Flügeladjutant des neben uns residierenden Königs von Neapel einfand. Während ein Arrangement getroffen wurde, ihn unterzubringen, entspann sich zwischen ihm und meiner Mutter die folgende Unterhaltung.[99]

Wenn Madame vielleicht den Kaiser sehen wolle, sagte der Fremde, so möge sie nur ans Fenster treten, er werde gleich vorbereiten. Vielmehr werde sie sich, erwiderte meine Mutter, mit Erlaubnis ihres Gastes in die Hofzimmer zurückziehen, da sie wenig Neigung fühle, den Mann zu sehen, der im Begriffe sei, ein armes Volk zu zertreten, das ihm nichts getan habe. Jener lachte und sagte, es würde auch zu nichts führen, als die Augen wieder abzuwenden. Darauf fügte er vertraulich hinzu: »Glauben Sie mir, Madame, ich teile Ihren Geschmack und könnte Sie um solche Hofzimmer wohl beneiden.« Dies Bekenntnis war etwas unerwartet von einem Offizier der großen Armee, und meine Mutter brach das Gespräch ab.

Bei näherer Bekanntschaft zeigte sich indessen, daß der vermeintliche Franzose ein Italiener und als solcher vielleicht nicht ganz unberechtigt war, sich den Beglücker seines Vaterlandes aus dem Wege zu wünschen. Mit meinem Vater, der Italienisch mit ihm sprach, wurde er schnell vertraut und wußte beim Glase Wein als Augenzeuge schauerliche Dinge zu berichten. Er nannte Napoleon einen Geist der Finsternis, der im Himmel und auf Erden nichts respektiere als sich selbst. Am besten wüßten das, die ihm am nächsten ständen, seine Marschälle und Verwandten, welche oft versucht sein möchten, sich in Hofhinterzimmer zu wünschen, wenn sie sich für ihre Fürstentitel buchstäblich mit Füßen müßten treten lassen. Bei seinem endlichen Abmarsch sagte er meiner Mutter: »Ich wünsche Ihnen Glück, Madame, zu diesem klugen Kriege, der Ihre Feinde aufessen wird. Sie sehen schwerlich viele von uns wieder.«

Was meine Wenigkeit anlangt, so teilte ich zwar aufrichtig den Widerwillen meiner guten Mutter gegen den Helden des Jahrhunderts, doch hatte mich das nicht abgehalten, mich an jenem Morgen auf die Straße zu begeben, um mir den hochgewaltigen Mann, dessen Name auf allen Lippen war, möglichst von nahem zu besehen. Auch war es mir gelungen, in einem Augenblicke, da er anhielt, um eine Meldung anzuhören, nicht weit von seinem Pferde Fuß zu fassen. Da blickte ich ihm lange in sein gelblich fahles, damals schon gedunsenes Gesicht, das mir den Eindruck eines Leichenfeldes machte. Seine festen, imperatorischen Züge waren kalt und ruhig, sein Auge tot, und gleichgültig ruhte sein trüber Blick ein Weilchen auch auf dem kleinen, ihn neugierig anstarrenden Knaben. Dann ritt er langsam weiter, von seinem glänzenden Stabe gefolgt.

Neben ihm war Murat, der König von Neapel. Er sah phantastisch aus, wie ein Theaterprinz, trug ein Barett mit Straußenfedern, gestickte Schnürstiefel und einen kurzen, reich mit Gold belegten Waffenrock.[100] Aber neben der einfachen Gestalt des Kaisers entschwand er dem Blicke schnell. Jenem blickte ich lange nach, dem kleinen, unscheinbaren, großen Manne in seinem schlichten Überröckchen. Das also war er! dacht' ich.

Napoleon ritt seitdem noch oft vorüber, doch meine Mutter sah ihn nie. Wie nachteilige Speisen ihr nicht schmeckten, auch nicht die delikatesten, so mochte sie auch nichts sehen, was ihr verderblich schien, wenn es auch noch so interessant war. In ihren Augen war jener große Mann nichts anderes als eine dem Abgrunde der Hölle entstiegene Schreckgestalt, ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder, ein Vielfraß an Ländern, Blut und eitler Ehre. Seine Größe bewunderte sie am wenigsten. Was sie davon erkannte, schrieb sie lediglich dem Zorne Gottes zu, der ihn als einen giftigen Skorpion vom Staube aufgerafft, die Welt mit ihm zu geißeln. Man kann sich daher ihr Befremden denken, als sie erfuhr, daß eine Dame unserer Bekanntschaft voll Begeisterung ausgerufen habe: »Oh, daß ich ihm die Füße küssen dürfte – und dann sterben!«

»Veder Neapoli – e poi morir!« parodierte mein Vater. Er seinerseits hatte übrigens jede Gelegenheit wahrgenommen, den großen Mann zu sehen, sooft er konnte, nicht, um daran zu sterben, sondern nur, sich seine Züge einzuprägen. Dann malte er ein schönes, düsteres Bild, das er seiner Sammlung von Zeitgenossen einverleibte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 98-101.
Lizenz:
Kategorien: