Von kleineren Größen

[101] Die Franzosen waren abgezogen, und hinter ihnen wirbelte der Staub auf, wenigstens in unserem Hause. Es ward mit Besen gefegt, gescheuert und gelüftet; dann erfreute man sich wieder der altgewohnten Lebensordnung und des ungestörten Verkehrs mit zahlreichen Freunden und Bekannten, deren Gemeinschaft die Last der Zeit erleichterte.

Konventionellen Umgang waren meine Eltern so glücklich, nicht zu kennen, und doch auch waren sie so wenig als irgend jemand in der Lage, sich ihre Gesellschaft ganz willkürlich zu wählen; was ihnen aber davon zufiel, war meistens von der Art, daß sie Genuß daran hatten,[101] den zum großen Teil sogar wir Kinder mitempfanden. Unter den künstlerischen Freunden unseres Hauses aber stand uns Kleinen jedenfalls der Landschaftsmaler Professor Friedrich obenan, vielleicht weil er sich am meisten mit uns einließ und, was mich anbelangt, seine Eigentümlichkeit mir schon damals nichts weniger als unverständlich war und mich ganz besonders anzog.

Friedrich war ein sehr aparter Mensch. Mit seinem ungeheuren Kosakenbarte und großen, düsteren Augen hatte er ein treffliches Modell zu einem Bilde meines Vaters abgegeben, das den König Saul darstellte, über den der böse Geist vom Herrn kommt. Doch wohnte in ihm vielmehr ein Geist, der keine Fliege kränken, viel weniger geneigt sein konnte, den frommen Harfenisten David zu erlegen, ein sehr zarter, kindlicher Sinn, den Kinder und kindliche Naturen leicht erkannten, mit denen er daher auch gern und zutraulich verkehrte. Im allgemeinen war er menschenscheu, zog sich auf sich selbst zurück und hatte sich der Einsamkeit ergeben, die je länger, je mehr seine Vertraute ward und deren Reize er in seinen Bildern zu verherrlichen suchte.

Dergleichen Bilder waren früher nicht gewesen und werden schwerlich wiederkommen, denn Friedrich war ein Einundeinzigster in seiner Art wie alle wirklichen Genies. Es ist schade, daß man Kunstwerke nicht beschreiben kann; man kann eben nur ihren Stoff andeuten, und es war sonderbares Zeug, was Friedrich malte. Nicht paradiesische Gegenden voll Reichtum und lachender Pracht, wie Claude sie liebte und alle diejenigen gern sehen, die nur Stoff und Machwerk ansehen. Sehr einfach, ärmlich, ernst und schwermutsvoll, glichen Friedrichs Phantasien vielmehr den Liedern jenes alten Keltensängers, deren Stoff nichts ist als Nebel, Bergeshöhe und Heide. Ein Nebelmeer, aus dem eine einsame Felsenkoppe ins Sonnenlicht aufragt, ein öder Dünenstrand im Mondschein, die Trümmer eines Grönlandfahrers im Polareise – so und ähnlich waren die Gegenstände, die Friedrich malte und denen er ein eigentümliches Leben einzuhauchen wußte.

Mein besonderer Liebling unter diesen Bildern war ein junges Kiefernbäumchen im wirbelnden Schneewetter. Dichter Schnee lag oben darauf und fußhoch darum herum. Darunter aber, im Schutz des Nadeldaches, war es sehr heimlich, da war der Schnee nicht hingelangt, da schliefen die Kinder des vergangenen Sommers, Heidekraut und welke Halme und ein paar zusammengekrochene Schneckenhäuschen, im tiefsten Frieden. Das war das ganze Bild.

Mit so einfachen Mitteln große Wirkungen zu machen, vermag nicht jeder, und doch liegt es so nahe, Einfaches und Bekanntes darzustellen, wenn man verstanden sein will. Ein Kiefernbäumchen ist uns jedenfalls[102] verständlicher als ein Palmbaum, den wir nie gesehen. Inzwischen hatte Friedrich doch immer nur ein kleines Publikum, weil er, wennschon mittels bekannter Formen, dennoch etwas zur Anschauung brachte, was die meisten Menschen fliehen, nämlich die Einsamkeit. Hätte mein Vater die Fremden, die seine Werkstatt besuchten, nicht regelmäßig auf Friedrich verwiesen und überall Lärm für ihn geschlagen, so würde der bedeutendste Landschaftsmaler seiner Zeit gehungert haben.

Dieser originelle Meister entstammte traditionell einem alten Grafengeschlecht, das, evangelischen Bekenntnisses wegen, vorzeiten aus seinem Stammsitz Friedrichsdorf in Schlesien ausgewiesen, sich nach Pommern gewandt und dort der Seifensiederei ergeben hatte. Auch unser Friedrich war der Sohn eines Greifswalder Seifensieders, und von den Eigenschaften seiner Ahnen hatten sich nur die inneren Werte tapferer Wahrheitsliebe, stolzen Freiheitssinnes und einer hohen moralischen Selbständigkeit auf ihn vererbt. Im übrigen war er so arm wie Kepler, von dem der Dichter singt: »Er wußte nur die Geister zu vergnügen, drum ließen ihn die Leiber ohne Brot.« Auch Friedrich kam aus seiner bedrängten Lage nie heraus, weil er zu menschenscheu und unbeholfen, vielleicht zu gut für diese Welt war. Namentlich nach dem Tode meines Vaters gestaltete sich sein Leben immer trüber, aber der Adel seiner Seele blieb ungebrochen. Die Felsenkoppe, die aus Nebeln nach der Sonne schaut, das war sein Bild.

Näher noch als Friedrich, mit dem er nicht allzuviel Berührungspunkte hatte, stand meinem Vater ein anderer namhafter Maler, der geist- und kenntnisreiche Professor Hartmann, derzeit Direktor der Akademie, um die er große Verdienste hatte. Wie Friedrich und wie fast alle Menschen, stammte auch Hartmann aus einem Hause, das seine Adelstitel abgelegt hatte, nämlich von dem alten, durch Leier und Schwert berühmten schwäbischen Geschlecht der Hartmann von der Aue. Hoch und stattlich gewachsen, von freier Haltung und feinen Manieren, gewandt und liebenswürdig, ehrenhaft in allen Beziehungen und sehr wohlgeordnet in seinen Finanzen, trug er von Kopf bis auf die Füße das Gepräge eines vornehmen Mannes. Er war auf der Karlsschule zu Stuttgart erzogen, für den Staatsdienst vorgebildet und besaß einen Schatz gelehrter Kenntnisse, den er fortwährend mehrte. Als Künstler hatte er sich einen Namen gemacht, und obgleich seine Bilder mehr meditiert als erfunden waren, so hielt mein Vater ihn doch sehr hoch als gründlich durchgebildeten Historienmaler und bediente sich gern seines Rates. Ebenso schätzte er ihn als tüchtigen Menschen und liebenswürdigen[103] Gesellschafter, kam fast täglich mit ihm zusammen und freute sich seines sprudelnden Witzes. Hartmann gehörte zu den treuesten Freunden unseres Hauses, übernahm nach meines Vaters Tode die Vormundschaft über uns Kinder und hat uns, solange er lebte, seine Teilnahme nicht entzogen.

Außer den beiden Obengenannten sprachen auch noch andere Kunstgenossen im »Gottessegen« ein und wurden wert gehalten. So der bekannte Sepiazeichner und Erfinder dieser Manier, Professor Seidelmann, und seine geistvolle Frau, eine Venezianerin, die ebenfalls malte, ein schwarzes Schnurrbärtchen und sogar auch den Professortitel hatte, den irgendeine Akademie ihr aus Courtoisie verliehen haben mochte. Dann der bekannte Schlachtenmaler Sauerweid, der namentlich des Abends auf dem Weinberge als geschickter Feuerwerker sehr geschätzt war, die talentvolle Therese aus dem Winkel, der bescheidene Bildhauer Kühne, Friedrichs Spezialfreund, und der Galerieinspektor von Demiani, ein Ungar, der sich indessen mehr durch Sachkenntnis und Gefälligkeit in seiner amtlichen Stellung als durch eigene künstlerische Leistung hervortat. Ein größeres Bild sollte er jedoch gemalt und auch ausgestellt haben, welches im Kataloge als eine Hagar in der Wüste bezeichnet worden. Es war eine öde, mannigfach zerklüftete Berglandschaft, so wie man etwa geneigt ist, sich die sinaitische Wüste vorzustellen; im Hintergrunde aber sonnte sich auf moosigem Felsen ein auffallend dickes Hippopotamus. Auf die Frage, wo denn die Hagar wäre, wurde man auf jenes ferne Ungeheuer verwiesen, welches sich denn auch bei näherer Besichtigung als die Gruppe einer Frau mit einem Kinde auswies.

Unter den Künstlern habe ich hier noch des berühmten Kupferstechers Professor Müller zu gedenken, der gerade damals mit Ausarbeitung[104] seines bekanntesten Blattes, der Sixtinischen Madonna, beschäftigt war. Mein Vater hatte den Umriß dazu selbst gezeichnet; er interessierte sich sehr für diese Arbeit, besuchte Müller fleißig und nahm auch mich bisweilen mit. Da konnte ich mich denn nicht satt sehen an den edlen Gestalten jenes Bildes, das ich zwar zu Hause täglich vor Augen hatte, das mir aber hier aus hell poliertem Kupfergrunde mit ganz neuem Reiz, wie aus einem Lichtmeer, entgegentrat. Der Abdruck auch des besten Stiches hat mehr oder minder immer etwas von dem kalten und sterilen Charakter der Federzeichnungen; auf der Platte aber ist Wärme, Licht und Leben, man vermißt die Farbe nicht und empfindet einen Zauber, der wenigstens in meinen Augen die Wirkung bunter Bilder noch übertrifft oder doch nur ausnahmsweise und nur von den größten Koloristen erreicht worden ist.

Bei einem dieser Besuche schenkte mir Müller eine kleine Kreidezeichnung, die er in Rom nach Raffael gemacht hatte. Es war dies ein jugendlicher Kopf aus der »Schule von Athen«, mit wenigen Strichen meisterhaft aufs Papier geworfen und vollendet. Die Zeichnung sah so leicht und selbstverständlich aus, daß ich dachte, es könne dergleichen keine Hexerei sein, und mich ans Kopieren gab. Aber wohl zwanzigmal, zuletzt mit Tränen, habe ich das schöne Köpfchen nachgezeichnet und es in allerlei Fratzen verwandelt, die weder mit dem Original noch untereinander die geringste Ähnlichkeit hatten, bis ich endlich erkannte, daß es doch eine Hexerei war, und mich mit der gewonnenen Einsicht meines Unvermögens begnügen mußte. Das Müllersche Original aber verwahre ich noch heute als ein teures Andenken an den Geber und bewundere es jetzt mehr als damals.

Unter den wissenschaftlichen Zelebritäten Dresdens mochte meinem Vater der als einer der ersten Archäologen seiner Zeit bekannte Hofrat Böttiger am nächsten stehen, ein Mann, dessen hervorragendste Eigenschaften nächst einer überaus großen Gelehrsamkeit seine Freigebigkeit mit derselben und eine Dienstfertigkeit waren, die alle Vorstellung überstieg. Es sei ganz unmöglich, wurde gesagt, auch nur fünf Minuten lang mit Böttiger zu verkehren, ohne irgend etwas gelernt oder einen dankenswerten Dienst von ihm empfangen zu haben.

Andere gelehrte oder literarische Freunde waren: der alte, freundliche Bibliothekar Dasdorf, der meine Mutter mit jeder gewünschten Lektüre aus der Königlichen Bibliothek zu versorgen pflegte, der Professor[105] Hasse, nochmaliger Biograph meines Vaters, der Graf von Loeben, in seinen Poesien Isidorus orientalis geheißen, der Minister von Nostitz, der sich Artur von Nordstern nannte, der Hofrat Winkler, Herausgeber der »Abendzeitung«, der nachmalige Dichter des »Freischütz«, Hofrat Kind, und der durch seine Erfindung künstlicher Mineralwasser sehr bekannt gewordene Apotheker Dr. Struve.

Letzterer beschäftigte sich damals mit Versuchen einer Zuckerbereitung aus Kartoffeln, um den immer teurer werdenden Rohrzucker zu ersetzen. Eines Abends brachte er uns ein Pröbchen davon mit. Da aber der Hals des Fläschchens zu eng war, den dicken Sirup zu entlassen, war man genötigt, eine Rabenfeder hineinzutauchen, die wir der Reihe nach ableckten, erst die Großen, dann die Kinder. Die Mutter zwar zog es vor, davonzubleiben; alle anderen aber waren sehr befriedigt und nicht weniger verwundert, wie es möglich gewesen, der herben Knolle eine solche, wenn auch etwas brenzlige Süßigkeit zu entlocken.

Weniger bekannte Namen als die vorgenannten übergehe ich hier und will in folgendem nur einzelner gedenken, die auf die innere Entwickelung meiner Eltern und durch diese auch auf uns Kinder einen für alle Zukunft maßgebenden Einfluß übten.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 101-106.
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