Ein Kindermord und seine Folgen

[145] Weniger nachteilig als die lebendigen Schauspieler wirkte in konsumtiver Beziehung ein großes, ebenfalls von Paris herangewandertes Marionettentheater. Etwas Vollkommneres war noch nicht gesehen worden, und jedermann, der Zeit und Muße fand, ergötzte sich daran. Uns Kinder brachte eines Abends der von Leipzig angereiste Vater Volkmann hin.

Wir hatten noch niemals ein Theater gesehen; aber obgleich wir eigentlich nicht recht wußten, was da vorgehen würde, erwarteten wir doch immer etwas recht Erkleckliches, dem vielen Geld entsprechend, das Volkmann an der Kasse gezahlt hatte. Auch sprachen uns der dekorierte Saal, der Kronleuchter, die vielen Menschen und der schön gemalte Vorhang, den wir für eine Wand hielten, schon recht an. Ich nahm die Vereinigung dieser Dinge für die Komödie selbst und saß in der behaglichsten Stimmung auf meiner Bank. Beim Beginn der Ouvertüre sahen mein Bruder und ich uns bedeutungsvoll an. Wir fanden, daß eine Komödie ein Staatsvergnügen sei.

Wer aber beschreibt unsere Überraschung, als es nun klingelte, die bunte[145] Rückwand vor unseren Augen aufrollte und dem Blicke freie Aussicht auf die herrlichsten Paläste gestattete. Wir sahen abwechselnd Jerusalem und Bethlehem, denn das Stück stellte den Bethlehemitischen Kindermord vor. Ich war ganz wie bezaubert. Das Unnatürliche und Steife in den Bewegungen der Puppen störte mich nicht. Vielmehr war es mir ausgemacht, daß diese Würde und Einfalt der Manieren vor zwei Jahrtausenden wirklich gang und gäbe gewesen sei. Auch ist es nicht zu leugnen, daß die Volkspoesie der Puppenspiele wegen ihres fürchterlichen Ernstes und ihres Mangels an spielender Reflexion sich der Großartigkeit des alten Heldenliedes nähert. Wie prächtig war dieser dunkelrote König Herodes! wie zermalmend sein Grimm, als er sich vom Throne erhob und zornig mit seinem Reichsapfel Fangeball spielte! Und wie rührend sah es aus, als die beklagenswerten, in tiefe Trauer gehüllten Mütter ihre Kinder zur Schlachtbank führten. Es war ein langer Zug, den das Orchester mit einem sanften Trauermarsch begleitete. Ohne Aufhören und Ende zogen sie vorüber, während man hinter der Szene das gräßlichste Massaker hörte.

Zu Hause hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als alles nachzumachen. Es wurde ein Theater konstruiert, gepappt, gekleistert und angestrichen. Auf Notenpapier malte ich den König Herodes und die übrigen, wie sie mir im Gedächtnis waren, und schnitt sie sauber aus. Dann wurde mit der Aufführung des Kindermordes vorgegangen. Die Geschwister gaben Publikum und Orchester zugleich ab. Mein Bruder trompetete schmetternd mit dem Munde und schlug die Pauken auf seinem eigenen Leibe, und auch die kleine Schwester machte tapfere Musik, bis ich klingelte und die Vorstellung ihren Anfang nahm.

Inzwischen wurden wir des einfachen Sujets bald überdrüssig. Ich fing an, mich in eigenen Ideen zu ergehen, und nun erst gewann die Sache rechten Reiz für mich. Ich wurde ein berühmter Puppenspieler unter meinesgleichen, ja selbst Margarete verfehlte nicht, mir zuzusehen mit assez bien und fort joli! und da ich alles selbst machen mußte, Text, Malereien und Aufführung, so hatte ich immerhin auch meinen Nutzen von diesen Spielereien.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 145-146.
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