Die Thüringische Reise

[174] Kaskels hatten Ballenstedt schon seit längerer Zeit verlassen, als auch wir im Februar des Jahres 1814 zum Aufbruch rüsteten. Die Eltern dachten jedoch nicht auf dem nächsten Wege nach Dresden zurückzukehren, da eine Kusine meiner Mutter, die an den herzoglich gothaischen Oberforstmeister von Ziegesar verheiratet war, sie eingeladen hatte, den Rückweg über ihren im Altenburgischen gelegenen Wohnsitz Hummelshayn zu nehmen.

Uns Kindern war es in Ballenstedt so wohl geworden, daß wir um so weniger gern ans Scheiden dachten, als wir nicht direkt nach Dresden gehen, sondern das uns völlig fremde Hummelshayn erst überwinden sollten, und besonders war wohl anzunehmen, daß meinem Bruder der Gedanke schwerfiel, eine Verbindung wieder aufgeben zu sollen, die[174] ihm so nützlich war. Inzwischen waren wir noch nicht fort, und mancherlei Hindernisse stellten sich der Abreise entgegen, an welche sich die Hoffnung knüpfte, den Frühling vielleicht doch noch in Ballenstedt zu erleben.

Das Geschlecht der Lohnkutscher war nämlich für Ballenstedt noch unerschaffen, und die Ökonomen, die sonst für Geld und gute Worte anzuspannen pflegten, wollten ihr Geschirr an diese Jahreszeit nicht wagen. Postpferde gab es auch nicht, und wären sie dagewesen, so fehlte wieder ein Vehikel. Durch die Luft fliegen konnten wir aber ebensowenig als zu Fuß gehen, und so sollte denn die Reise wirklich noch verschoben werden – als sich sehr unerwartet und zum Schreck des jungen Ehemanns plötzlich ein gewisser Bäcker meldete, der uns für schweres Geld bis Erfurt fahren wollte. So mußte es denn doch geschieden sein. Man sagte allerseits den Freunden Lebewohl, die Koffer wurden gepackt, und bei träufelndem Tauwetter hielt der bewußte Bäcker zur bestimmten Morgenstunde vor der Haustüre.

Sehr einladend sah die Gelegenheit nicht aus. Der Wagen, von unbeschreiblichen Proportionen, hing altersschwach und lahm in seinen Federn, die Schläge waren mit Bindfaden befestigt und die hart eingetrockneten Fensterladen weder einzuknöpfen noch zurückzuschnallen. Die Pferde standen da mit tiefgesenkten Häuptern, dem Anschein nach halb schlafend oder tot, und niemand konnte begreifen, wie sie nur bis hierher gelangt waren. Aber seine Pferde wären gut, sagte der Kutscher, begrüßte jedoch jeden Koffer, der ihm zugetragen wurde, mit schweren Seufzern.

Endlich war alles fertig, und Barduas wurden umarmt, soweit dies anging, denn wenigstens wir Kinder konnten die Arme nicht sehr rühren, da wir verpackt und eingewickelt waren wie Kokons. So wurde einer nach dem anderen in den höchst jammervollen Kasten verladen, bis sich zuletzt auch noch das »Mädchen aus der Fremde«, wie sie in Ballenstedt genannt wurde, nämlich die getreue Rose, darstellte, um gleichfalls aufzusteigen. Sie hatte, um sich vor Kälte und ihre sieben Sachen vor dem Verderben des Einpackens zu schützen, alles auf den Leib gezogen, was sie an Wäsche und Kleidern besaß, und sah wie das Heidelberger Faß aus. Der Kutscher hatte jeden Einsteigenden im Geist gewogen und zu schwer befunden. Als er aber dieses Ungeheuers von Mädchen ansichtig wurde, tat er einen schauderhaften Fluch und schwur, ihn solle dieser oder jener holen, wenn er sie in den Wagen ließe.

So möge er sich denn hinpacken, wo er hergekommen wäre, schrie ihn der Vater an, ließ wieder abladen; dieser erste Anlauf war gescheitert.[175]

Mamsell Schäfer hatte aus ihrem Fenster das ganze Mißgeschick mit angesehen. Sie hatte mit ihren Schwiegereltern so gut wie keinen Umgang gehabt und kannte namentlich meine Mutter, die ebenso einhäusig als sie selbst war, nur von gelegentlichen nachbarlichen Fensterbegrüßungen. Nichtsdestoweniger fühlte sie sich nun zu einer Tat bewogen, welche über die notwendigste Nächstenliebe noch hinausging. Sie bot uns nämlich ihren eigenen Reisewagen an und wußte sogar Pferde aus einem benachbarten Dorfe aufzutreiben, so daß unsere Abreise sich schon am nächsten Morgen erfüllen konnte.

Aber trotz bester Equipage war es doch immer nicht die beste Fuhre. Die Wege gingen auf, und der Wagen taumelte wie ein Trunkenbold von einer Seite auf die andere, bis er schließlich in der Naumburger Gegend in einem Schneeloch steckenblieb. Mein Vater und der Kutscher sprangen ab. Sie durchnäßten sich fast bis zum Halse, indem sie mit Geschrei und Prügeln taten, was sie konnten, auch legten sich die Pferde mit allen Kräften ins Geschirr und taten ebenfalls, was sie konnten – aber der Wagen stand wie eingenietet.

Da schien es denn ein Glück zu sein, daß ganz in nächster Nähe ein Haufen Schneeschipper arbeitete. Mein Vater sprach sie an; sie sagten aber, sie wären angestellt, die verschneiten Gräben auszuschaufeln, daß kein Wagen hineinpolterte, und das übrige ginge sie nichts an. Der Kutscher entgegnete, die Löcher auf der Straße wären schlimmer als alle Gräben, und sie sähen doch, daß wir schon drin stäken; aber es war so wenig mit ihnen anzufangen als mit der Armsäule am Wege, die eben auch zwei unnütze Pfoten in die Luft streckte, und weder Bitten noch Geld konnten sie bewegen, ihren Beruf verständiger aufzufassen.

So saßen wir denn abermals fest, und keine Mamsell Schäfer guckte zum Fenster heraus. Mein Vater und der Kutscher hielten Kriegsrat, und es schien nichts anderes übrigzubleiben, als den Wagen zu entleeren und abzupacken – eine schlimme Aussicht für die kränkelnde Mutter und uns alle. Aber siehe! da nahte sich mit fröhlichem Gesange ein kleines, auf dem Marsch begriffenes Detachement von etwa zwanzig russischen Soldaten. Als diese sahen, was hier los oder vielmehr steckengeblieben war, legten sie unaufgefordert und augenblicklich Hand an. Ein paar starke Kerle krochen unter den Wagen und hoben ihn mit ihren Rücken, daß er in den Fugen krachte, während andere schoben, schrien und in die Pferde hieben. Im Augenblicke waren wir aus dem Pfuhl heraus, und unsere Retter zogen beschenkt und singend weiter.

Diesmal hatte der rohe Russe den rohen Deutschen überflügelt. Auch[176] erinnerten sich die Eltern aus ihrem früheren Leben in Rußland ähnlicher Beispiele rascher, uneigennütziger Hilfeleistung, und meine Mutter nannte die Russen gutherzige Menschen. Der Vater stimmte bei, nur sagte er, dürften diese gutherzigen Menschen nicht vornehm werden.

Ohne weitere Fährlichkeiten gelangten wir nach Jena, wo mehrere Tage gerastet wurde. Wir waren in dem Hause des Stallmeisters Seidler abgestiegen, dessen talentvolle Tochter Luise, eben wie die Bardua, Schülerin meines Vaters war und jetzt alles aufbot, unseren Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Von hier aus waren wir sehr viel unter Menschen, am meisten bei der schon von Dresden her befreundeten Familie des Buchhändlers Frommann, der eins der angenehmsten Häuser in Jena machte. Hier fanden auch wir Kinder unsere Rechnung, da die eben heranwachsende Tochter Alwina sich unser aufs dankenswerteste annahm. Alwina war anmutsvoll, dienstfertig, lebendig, jeder Zoll an ihr ein Mädchen, was ihr ungemein zustatten kam, da sie kein Junge war. Sie trieb sich wacker mit uns herum, haschte und versteckte sich, zeichnete und zeigte Bilder und hockte, Geschichten erzählend, mit uns in Winkeln.

Als wir wieder im Wagen saßen, um die letzten Meilen nach Hummelshayn zurückzulegen, und die Eltern untereinander von den mancherlei interessanten Menschen sprachen, die sie in Jena kennengelernt, richtete der Vater das Wort auch an uns Kinder und fragte, wer denn uns von allen am besten gefallen habe? »Alwina!« sagten wir wie aus einem Munde. Da lachte der Vater und sagte, wenn er sich recht besänne, ginge es ihm ebenso, und die Mutter pflichtete ihm vollständig bei. Ein junges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren hatte den Preis über alle Genies der Musenstadt davongetragen. Das ist die wunderbare Macht, die auch die jüngsten Mädchen üben, wenn sie nur weiblich sind.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 174-177.
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