11 [22] Brief an Marie Schnür

Vatopedhion-Kloster, 6.4.1906


Meine liebe Schnür, mit süß verwirrten Sinnen durchstreife ich diesen wunderbaren Athos, mit der verworrenen, sehnsüchtigen Erinnerung an meine deutschen Freunde u. Freundinnen. Das beschneite Thasos liegt rötlichschimmernd gegenüber. Lemnos und alle die berühmten, vielbeschrieenen griechischen Inseln leuchten über das Meer hierüber. Der Athos steht trotz des noch kürzlich gefallenen Schnees schon in der Frühlingsblüte, alle Gewürze und Spezereien des Abendlandes strömen ihren blühenden, betäubenden Duft um einen aus; denn hier ist der Ort, von wo die geheimnisvollen Gewürze der Weihnachts-Bäckereien ihren Ursprung haben. Wir leben jetzt durchwegs in den griechischen Klöstern, werden mit Fisch, Kaffee, Rotwein und Schnaps genährt, (aber ein Rotwein und Schnäpse, von denen sich ein Abendländer nichts träumen läßt!), gehen täglich in die Kirche, – ein Kapitel, das mit der Feder zu beschreiben unmöglich ist; ich werde versuchen, Ihnen durch mündliche Schilderung einen Begriff davon zu geben. Ein solcher griechischer Gottesdienst ist etwas so anstrengendes, ermüdendes, daß ich mir vorstelle, das schwächere Naturen wie ich und mein Bruder schon nach einer Stun de ohnmächtig aus der Kirche getragen werden müßten, – wegen Überanstrengung der Nerven und empörtem Ärger. Was übrigens die wissenschaftlichen Absichten meines Bruders betrifft, so erreichen wir hierin mehr, als wir je erhofften und irgendein Gelehrter anläßlich dieser Reise prophezeit hatte. Wir waren schon ganz skeptisch und resigniert gestimmt. Was uns, entgegen allen bisherigen Erfahrungen europäischer Gelehrter, die Gunst der Athosmönche erworben hat, wissen wir selber nicht. Dickste Freundschaft, sag ich Ihnen! Desgleichen haben wir sogar mit der türkischen Behörde am Athos intime Freundschaft geschlossen und uns gegenseitig einen Abend mit Bier in Grund und Boden gesoffen! Jener Abend gehört zu den komischsten und originellsten Erinnerungen meines Lebens. Wenn Sie sich sogenannte ›Kümmeltürken‹ in der grotesken Phantasie malen, wie man sie nur in Kinderbüchern pflegt, so bleiben Sie noch sicher hinter der Wahrheit zurück! Der[22] Abend verlief unter feierlichsten gegenseitigen politischen Toasten! Die Eindrücke unserer Reise sind eine kuriose Mischung von Komik und Staunen, von Ironie und Ergriffenheit, von Genuß und Entbehrung jeder Art. Mein Bruder und ich verstehen uns ausgezeichnet und wirklich tief, trotz der großen Verschiedenheit unserer Anlagen; ich bin selig, wieder einmal so lange mit ihm allein sein zu dürfen; aber doch freue ich mich sehr, sehr auf mein Atelier, auf den Sommer, auf's Malen, – mit Ihnen, nicht wahr? Tun Sie's; ich bitte Sie darum. Versuchen Sie es wenigstens. Seien Sie Freund zu mir, so tief Sie's können! Ich will es sicher sein; ich habe Menschen wie Sie lieb. Und wenn es wahr ist, daß ich mir zu viel an Freundschaft- und Liebegeben zutraue, – welches Gefühl sagt Ihnen, daß Sie unter dies zu viel gehören?

Ich küsse Ihre Hände,

Ihr F. Marc

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 22-23.
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