157

[129] 20.II 15


Liebe, nun sind die 100 Aphorismen geschrieben [Aufzeichnungen und Schriften Nr. 30, d. Hrsg.]; es ging zum Schluß schneller, als ich dachte; ich hatte einige ganz ruhige Nachmittage. Ich habe sie flüchtig noch einmal überlesen und erschrak manchmal über die Schwierigkeiten, die sie für den Leser bergen. Gedruckt werden sie ja natürlich zugänglicher sein; ich arbeitete in meinem Quartier (sie sind zu 4/5 in F. geschrieben, in meinem kleinen Zimmerchen, dessen Photographie von außen <Fenster rechts der Türe> ich beilege, in dem es keinen Platz zu einem Tische gab und also zum Schreiben nur das Knie!). Das Heft stammt noch aus Hagéville! Laß Dir ja Zeit mit der Reinschrift, daß sie Dich nicht anstrengt; das Ganze ist so gedrängt und die einzelnen Gedanken meist so gedrungen, daß man schon jedes Wort klar lesen muß, um hinter seinen ganzen Sinn zu kommen. Ob noch sehr viel korrekturbedürftig ist, kann ich jetzt absolut nicht beurteilen; ich müßte es in einer klaren Abschrift überlesen können. Das schönste wäre natürlich Schreibmaschine; aber das ist wahrscheinlich teuer, und Helene ist viel zu beschäftigt, als daß ich sie bitten könnte. Wenn Du es abschreibst, nimm immer Doppelbögen, die Du nur auf der Innenseite einseitig (rechts) beschreibst, damit man links eventuelle Korrekturen setzen könnte, – oder immer eine Zwischenzeile leer lassen; ich glaube, das erste wäre besser. Vielleicht ist ja auch gar nicht viel zu ändern – tant mieux! In einer Herausgabe großer klarer Druck; ob es gut ist, sie zusammen mit I und II [Aufzeichnungen Nr. 26 und 27, d. Hrsg.] oder allein zu bringen, ist mir jetzt nicht mehr klar. Ich glaube ja, [daß] der Zusammenhang mit I und II das Verständnis sehr erleichtern könnte. Du wirst es erst beurteilen können, wenn Du es selbst abgeschrieben hast. Wie viele Menschen werden reif sein, das Buch ernst, also als geistiges Tatsachenmaterial zu nehmen und nicht als ›Literatur‹. ... Was wirst Du selbst zu den 100 sagen? Darauf bin ich sehr neugierig, neugieriger als auf den Zorn der vielen auf No 95–97 oder das eisige Schweigen der Menge. Vielleicht wirst Du auch wieder das Verlangen nach einem großen, weitausholenden Buch über all diese Probleme[129] haben, – aber bedenke, daß ich nicht Schriftsteller oder Gelehrter, sondern Maler bin; ich würde es wahrscheinlich nie können und muß es Berufeneren überlassen. Man weiß ja zur Genüge, wer ich bin; der Leser wird sich von vornherein auf diese Voraussetzung einstellen oder muß es eben. Ich schreibe ja im Grunde nur, weil die Berufenen versagen und um sie zu reizen und zu wecken und letzten und besten Endes schreibe ich überhaupt nur für mich, u. was ich schreibe, bedarf notwendig der Ergänzung durch meine – ungemalten! – Werke. Nun hast Du wieder ›Stoff‹ zum Leben. Schreib bald und alles, was Du denkst; ich korrespondiere gern über das einzelne, wenn Du es anregst. Aber erwähne den Aphorismus stets in seiner vollen Form; ich hab hier keine Abschrift. Kuß Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 129-130.
Lizenz:
Kategorien: