162

[132] 28.III.15. Palmsonntag!


Heut über Nacht ist plötzlich hoher Schnee gefallen, ganz unerwartet. Ich war noch gestern und vorgestern mit meinem Wagen in der Stellung vorn; gestern nachmittag und nacht kamen wir in strömenden Regen und heute morgen 1/2 mt Schnee! Die armen Störche frieren und sehen sehr bekümmert drein. Es wird ja wohl nicht lange dauern. Die kriegerischen Operationen hier zeigen dasselbe Bild wie überall in den Vogesen: ein Auf und Ab, wie wir es seit 7 Monaten gewöhnt sind. Ihr lest es ja aus den amtlichen Berichten. An ein Hinausdrücken des Feindes ist zunächst und wohl für lange nicht zu denken. Ich muß dabei oft an die Aufgaben der Österreicher in den Karpaten und Serbien denken; vielleicht tun wir ihnen doch auch etwas Unrecht mit unsrer geringschätzenden Ungeduld. Was Kämpfe in starkgebirgigem Gelände bedeuten, das wissen nur die, die es erlebt haben. Eine Beobachtung verfolgt mich stark in meinem ganzen Kriegsleben: die ewige Wiederkehr des Gleichen, nämlich der gleichen Menschentypen! Es ist mir oft, als gäbe es nur eine bestimmte begrenzte Anzahl von menschlichen Existenzeinheiten resp. Verschiedenheiten; Schnür dient bei mir in meinem Zug (ein sehr ordentlicher Mensch), Werefkin ist hier Kellnerin, Kubin, Kandinsky, Klee, – alle sind soundsooft im Krieg vertreten. Desgleichen wiederholen sich in unglaublichem Maße ›Situationen‹, wenn man ein etwas[132] somnambules Gefühl dafür hat und sie ›sieht‹. Die Tiere gehören selbstverständlich auch in diesen ewigen Typenkreislauf. Die uralte Lehre von der Reinkarnation und Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen hat für mich einen ganz neuen Sinn bekommen, den ich früher nie erfaßt hatte. Es ist durchaus kein müßiger Gedanke; denn er greift tief in das Geheimnis der künstlerischen Gestaltung hinein; vielleicht ist er überhaupt seine Erklärung. Wirkliche Kunstformen sind wahrscheinlich nichts als dieses somnambule Sehen des Typischen, das Sehen zwingender (und daher richtiger) Spannungsverhältnisse. Das Richtige war immer schon richtig, immer schon einmal da. Ich weiß nicht, ob es verständlich ist, wie ich mich ausdrücke. Es ist so stark halb- d.h. unterbewußtes Erlebnis, keine Klügelei, und man müßte erst die ganz richtigen Worte dafür finden; vielleicht gibt es sie auch nicht; denn es ist gar nicht notwendig möglich, alles mit unsrer unvollkommenen menschlichen Sprache auszudrücken. Der Gedanke ist deswegen doch da. Der Sternenhimmel, den ich in diesem Winter außerordentlich viel beobachtet habe, ist für mich gewissermaßen ein Leitfaden, die Logarithmen tafel dieses Gedankens: Die Spannungsverhältnisse der einzelnen Sterne und Sternbilder zueinander sind wie die Typenformeln, für den Sehenden wie ein aufgeschlagenes Buch des Lebens, der ›möglichen Situationen‹. Ich verstehe jetzt auch die vielverspotteten Astrologen. Ihre Gedanken sind nicht etwa Aberglaube oder Irrtümer, sondern nur die frühere, mittelalterliche Formung von Gedanken, die uns auch heute wieder bewegen; wir formen sie künstlerisch, die Alten zogen logische Schlüsse aus ihnen, aber der Grundgedanke und Ursprung dieses mythischen Sehens ist gewiß derselbe. In 8 Tagen ist Ostern, – verleb es friedlich und glücklich. Hoffentlich ist das Frühlingswetter bis dahin wieder da. Ich werde in diesen Tagen mit meinen Gedanken lebhaft und sehnsüchtig in Ried, bei Dir und allem, was zu unserm Leben gehört, sein. Mit liebem Osterkuß Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 132-133.
Lizenz:
Kategorien: