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[148] 25.V.15


Liebste, Du schreibst in einem Deiner guten Briefe, ›man sollte um der Sache willen, – um sie zu retten, alles ablehnen, was nicht dazu gehört‹ und daß ein solcher Standpunkt das Heil für mich wäre. Du hast sehr recht, daher auch gegenwärtig die große Spaltung meines Wesens, die von dem ungewöhnlichen Leben und den ungewöhnlichen Ereignissen bestimmt wird. Ich lebe eigentlich drei Leben nebeneinander: das eine Leben des Soldaten, das für mich vollkommene[148] Traumhandlung ist und bei dem ich beständig den sonderbarsten Ideenassoziationen und Erinnerungen unterworfen bin, z.B. als ob ich bei den Legionen Cäsars stünde, – das ist kein Witz; ich bin durchaus nicht krank, – ich ›sehe‹ uns plötzlich so, ganz genau, bis in alle Einzelheiten. So kommen mir auch die Bewohner der Gegend durchaus als Verstorbene vor, als Schatten (nach dem griechischen Hadesbild). Das sind gar keine Erlebnisse mehr für mich; ich sehe mich ganz objektiv wie einen Fremden herumreiten, sprechen u.s.w. Das zweite Leben ist schon eher ›Erlebnis‹, die Gedanken an Europa, Tolstoi, August, Ried, Bücher, die ich lese, Zeitungen und die Gedanken an die schon jetzt ganz sagenumsponnene Front der Riesenheere, die Fliegerkämpfe, (deren wir jetzt täglich Zeugen sind), meine Briefe, – in all dem steckt schon eine Wirklichkeit, in die ich wenigstens zuweilen meine Nase stecke und in der ich mich zuweilen wach, auf beiden Füßen und anwesend fühle, obwohl ich nie das Bewußtsein dabei verliere, daß dies alles für mich nicht wesentlich ist, nur Wege, Spaziergänge ohne Ziel, die man zur Erholung und ›um sich zu fühlen‹ und um nicht untätig zu sein geht, um dann wieder zu sich nach Hause zurückzukehren, in sein eigenes gänzlich unsichtbares ›Heim‹. Und das ist das dritte Leben: das unbewußte Wachsen und Gehen nach einem Ziel; das Keimen der Kunst und des Schöpferischen, der Keim, den man nicht vorwitzig berühren darf. Alles andere wird für mich unwesentlich und gleichgültig, wenn ich über dieses eigentliche innere Leben brüte; wie der Vogel über seinem Ei, so sitze und brüte ich über diesem Leben, – und was ich sonst tue und denke, gehört gar nicht wesentlich zu mir. Der wahre Geist braucht gar keinen Körper zu seinem Leben, – vielleicht ist ein Körper seine äußerliche Bedingung (Inkarnation), aber er ist nur wenig abhängig von ihm, kann sich von ihm zeitweise und besonders in seinen wichtigen, wesentlichen Stunden ganz von ihm trennen. Vielleicht wird Dir nicht ganz klar, was ich mit diesen Ideen ausdrücken will, sie sind ganz spontane Erkenntnis, – im übrigen eine Er kenntnis, die durch alle Religionen geht. Diese Trennung ist keine Bedingung; in einem harmonischen Erdendasein wird sie überhaupt kaum fühlbar, – wenn ich nach Ried und zu Dir zurückkehre und arbeiten darf, werden sich hoffentlich meine 3 Personen wieder hübsch eng zusammenschließen. Aber gegenwärtig laufen sie einzeln!

Wie geht's mit dem Essen? Schmeckt es K[aminsky] und ißt er auch ordentlich? Über den Klavierbetrieb bin ich sehr glücklich. Sei auch gegen Klee so offen, wie sich's unter anständigen Menschen gehört. Ich sah nicht recht ein, warum Du das doppelte Spiel spielen willst, – sie merkt es später doch. Du bist enttäuscht von Klee, – laß Dich davon nicht zu sehr in Deiner offenen Haltung beeinflussen. Dieses sich geistig zurückziehen und ›vorsichtig‹ sein kann ich nicht gut finden. Man muß so lebendig sein, immer wieder und immer[149] noch einmal von vorn anfangen zu können, auch im Leben und nie etwas nachzutragen, (– eine ganz unnötige Last, die man ›nachträgt‹). Ich lasse die Menschen nicht so schnell aus. Schade, daß es mit der Obsternte dies Jahr nicht so reichlich wird, – wer weiß übrigens. Bei schwacher Blüte fällt nicht viel ab, und vielleicht trägt der eine und andre Baum doch mehr, als man denkt. Die guten Schwälbchen sollen nur nisten; das bringt Glück. Auf Hanni werd ich immer neugieriger. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 148-150.
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