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[157] 18.IX 15.


Liebste, ich fühle etwas, auch unter guten Kameraden: man kann sich nicht mehr verständigen; fast jeder spricht eine andere Sprache. Es gibt nichts Trostloseres, Geistverwirrenderes, als über den Krieg zu sprechen; und über etwas anderes kann man schon gar nicht sprechen; das wirkt wie ein Irrenhausgespräch, rein fiktiv; keiner glaubt mehr voll an die Realität seiner Interessen und Weltbeziehungen; ›denn es ist ja Krieg‹! Und der Krieg selbst ist ein unlösbares Rätsel, das sich das menschliche Gehirn wohl selber ausgedacht hat, das es aber nicht ausdenken, zu Ende denken kann. Paul sandte mir ein Buch von Paul Rohrbach ›Bismarck und wir‹, – merkwürdig ungeistig; einfachste Realpolitik, die jedem zugänglich, der ein bißchen auf die Karte sieht; die Notwendigkeit des Suezkanals für Deutschland resp. Türkei u.s.w.!! Reist man ein paar Kilometer über die[157] Front, hat der Mensch – homo sapiens – englisch zu denken, nämlich: der Suezkanal muß unter allen Umständen englisch bleiben! Nirgends und von niemand wird der Krieg als menschliche Angelegenheit betrachtet, stets nur als englische oder türkische oder deutsche u.s.w., oder neutrale, wo das Pharisäertum seine schönsten Blüten treibt.

Kriegsgegner sind wohl alle; auch Deine Offiziere aus Gendrin mit ihren einstigen Hoffnungen und Erwartungen auf den kommenden Krieg. Aber sobald sich solche Kriegsgegner über dies Thema unterhalten und ihre Gedanken einigen wollen, geraten sie sofort in den schwersten und aussichtslosesten Streit; es ist wie wenn der Teufel ihre Zungen leitete.

Eben trifft Waldens Brief ein; das ist sehr anständig. Und Deine Wintersorgen bist Du hoffentlich wieder ein bissel los. Es ist doch ganz unglaublich, wie sehr das Geldpublikum sich von Kritikern beeinflussen läßt. Stahl spricht ja gerade von dem Hasenbild! Ja, Geist kann nur vom Ungeist Gewinn ziehen und ›leben‹; nur wo der Ungeist, die Dummheit und die Interessen auf den Plan treten, ist Wirtschaft möglich. Traurig. Ich schäme mich. Nun für heute genug.


Mit lieben Küssen und Herzen

und wieder Küssen Dein Fz.


Gruß an Maman.

Streichle Hanni und die Kleinen.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 157-158.
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