διδου μοι που στω και την γην κινω


12. Zur Kritik der Vergangenheit*

Um die Kräfte und Werte in der Welt zu vermitteln, bedienen wir uns seit alters her mit immer gesteigerter Geschicklichkeit eines unglaublich mangelhaften Systems, nämlich unsrer zwei- und dreidimensionalen Mathematik, die sich auf einem durch die sogenannten »fahlen« maskierten Trugschluß aufbaut. Zweimal zwei ergibt in Wahrheit niemals vier. Wenn wir von 4 Äpfeln zwei fortthun, bleiben nicht 2 Äpfel, sondern wieder 4, da wir keinen Ort haben, auf den wir die 2 Äpfel legen können, daß sie nicht mehr da sind. Dieser vielleicht sophistisch klingende Einwand zielt auf den Kern der Sache, – der imaginäre Begriff von »Besitz« und »Größe« baut sich auf demselben Trugschluß auf wie die Subtraktion und Addition und Dimension, alles Werte, Gesetze, die man in den Sand geschrieben hat und die der Weltenwind verweht. [Über die Geistesgeschichte der Menschheit kann man die Worte Goethes setzen: wo die Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.] Es gibt keine Naturgesetze, sondern nur Übereinkünfte der Menschen.

Wir sind uns wohl bewußt, welchen Dienst die wissenschaftlichen Übereinkünfte der Menschheit bisher geleistet haben; sie brachten die Befreiung aus den Kindheitsträumen des Menschengeschlechts; sie stellen die lange Schulzeit der Menschensöhne dar. Gerade in der Irrationalität der Wissenschaft Hegt ihr erzieherischer Wert und ihre Würde. Aber was nun vor uns liegt, wird das mannbare Leben der Menschen sein.

Alles ist eins. Raum und Zeit, Farbe, Ton und Form sind nur Anschauungsweisen, die der sterblichen Struktur unsres Geistes entstammen.

Raum ist eine von uns gedachte Projektion des Seins.

Zeit ist eine Berechnung des Seins, in die wir den Begriff »Gegenwart« als imaginäre Größe einführen.

Der Tote kennt nicht Raum und Zeit und Farbe, oder nur soweit er in der Erinnerung der Lebenden noch »lebt«. Er selbst ist erlöst von allen Teilempfindungen.[117] Mit dem Tode beginnt das eigentliche Sein, das wir Lebende [sehnsüchtig] unruhvoll umschwärmen wie der Falter das Licht.

Die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein, nach Befreiung von den Sinnestäuschungen unsres ephemeren Lebens ist die Grundstimmung aller Kunst. Ihr großes Ziel ist, [alle unsre Sinnesbegriffe] das ganze System unsrer Teilempfindungen aufzulösen, ein unirdisches Sein zu zeigen, das hinter allem wohnt, den Spiegel des Lebens zu zerbrechen, daß wir in das Sein schauen. Es gibt keine soziologische oder physiologische Deutung der Kunst. Ihr Wirken ist durchaus metaphysisch.

Hier scheint ein Widerspruch zu lauern. Aber daß künstlerische Werke Farben- und Raumgefühle wecken, daß die Musik die rhythmische Zeitenfolge des Geschehens zeigt, ist wiederum nur unsre Aperzeption, die sterblich ist, kunstfremd, Verfälschung des Immanenten der Kunst.

Aus diesen Gedanken leiten wir die Ideen unsrer Kunst ab.

Ein Schritt zur künstlerischen Einheit ist es schon, wenn wir uns nicht mehr ausschließlich auf unsre Augen verlassen, ihnen sogar sehr mißtrauen und an Stelle des Augensinns uns von Wärmeempfindungen, Gehöreindrücken etc. beim Malen leiten lassen. Die Zeit ... besaß keine anschaulicheren, festeren Formen. Das malerische Ornament, das von der Gotik bis zum Rokoko der Kunst zur äußerlichen Folie gedient hat, war tot; und neue gab es keine.

Heute dröhnt die Welt unter der Schöpfung neuer Formen; alles zittert unter der Arbeit der wunderbaren Maschinen [und Fabriken]. Es gibt neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Formen, die Welt hat sich bis zum kleinsten Gegenstand verändert; und all dies vollzog sich in atemloser Schnelligkeit.

Nun treten, wie zu allen Zeiten, Maler auf den Plan, die es als Selbstverständlichkeit ansehen, sich dieser neuen Formen malerisch bedienen zu dürfen; ja sie denken gar nicht so weit. Ihr Auge begeistert und schult sich am Weltbild; es sieht an Stelle des alten Ornamentes den Winkel und seine Hand malt so. Er braucht nicht Maschinen zu malen, – er kann und wird innerlich sogar etwas ganz anderes wollen; aber sein Werk trägt äußerlich den Stempel der Maschinendynamik und Chemie.

Wie ist es nur möglich, daß dieselben Menschen, die sich nicht über Dürers Arabesken oder die gothischen Gewandfalten zu wundern scheinen, wütend werden über die Dreiecke, Scheiben- und Röhrenformen unsrer Bilder? Müssen diese nicht voll sein von Drähten und Spannungen, von den wunderbaren Wirkungen des modernen Lichtes, von dem Geist der chemischen Analyse, die die Kräfte zerlegt und eigenmächtig verbindet? Das alles ist die äußere sinnliche Form unsrer Bilder.[118]

Es ist ungemein nötig, daß dies einmal ausgesprochen wird. Aus vielen Gründen. Man muß die Stillen im Lande von dem Glauben befreien, als könnten die Kritiker oder z.B. der Herr Bode einen gegründeten Anlaß haben, den äußerlichen Stil unsrer Bilder mit allen möglichen Schimpf- und Spottnamen zu belegen. Vielleicht dämmert es doch dem oder jenem, daß unsre Bilder gar nicht so unverständlich, »unentzifferbar« sind. In Paris fällt man förmlich über Picasso-Motive. Das Warenhaus und die moderne Beleuchtungsscenerie drängen uns das simultané von Delaunay geradezu auf. Daß ein Chemiker und Analytiker nicht einmal für die äußere Erscheinungsform Kandinskyscher Bilder Verständnis hat, ist mir völlig schleierhaft. Wahrscheinlich steckt in Kandinsky ein größerer Analytiker als in allen diesen Herren. Und nun gar die Futuristen! Unser modernes Leben und Denken ist so durch und durch futuristisch vom Telefon bis zu den X-Strahlen – Nun haben sie mich; so viele, die das lesen, freuen sich diebisch; nun haben wir ihn: platt, platt; das ganze Geistige, das Abstrakte ist erlogen; Nein, meine Herren, es ist nicht erlogen; ich zeigte Ihnen bescheiden das Äußerliche, Zeitliche, Vergängliche an unsrer Kunst, – nur das. [Das andre wollen wir der Zeit überlassen, die uns und unsre Ideen ruft.] Ich zeigte Ihnen unser instinktives aber offensichtliches Bemühen, uns mit dem Weltbild von heute malerisch auseinanderzusetzen, um unsre künstlerische Offenheit zu zeigen; um zu zeigen, daß wir genau so um das Weltbild unsrer Zeit ringen wie die Impressionisten um das ihre.

Und das Geistige, das wir so feierlich prophezeiten? Ich will versuchen, wenigstens mit einem Gleichnis das Verhältnis des Geistigen zur äußern Form unsrer Werke anzudeuten.

Alle okkultischen Phänomene haben in der Form, in der sie sich uns heute zeigen, ein äußerliches Analogon, das man die materialistische Form immaterieller Ideen nennen könnte. Das mediumistische Durchdringen einer Materie können wir durch die X-Strahlen gewissermaßen experimentell ausführen, das Schweben, d.h. das Aufheben des spezifischen Gewichtes, durch magnetische Experimente belegen. Ist nicht unser Telegraphenapparat eine Mechanisierung der berühmten Klopftöne? Oder die drahtlose Telegraphie ein Exempel der Telepatie〈sic!〉? Die Grammophonplatte scheint experimentell zu beweisen, daß die Verstorbenen noch zu uns reden können.

Das Okkulte, gewinnt heute, infolge dieser experimentellen Analogien, eine ganz neue Bedeutung, die man früher, in Religionszeiten, nicht kannte. Wer sollte so blind sein, diese merkwürdigen Zusammenhänge der geistigen Ideen mit dem physikalischen Experiment, des Innerlichen mit dem Äußerlichen zu leugnen?[119]

Einem solchen Zusammenhange nicht unähnlich sind die Beziehungen 〈zwischen〉 der äußeren Gestalt unsrer malerischen Werke und den innerlichen Ideen – materielle Formen können für die Sehenden abstrakte Bedeutung erlangen. Eine solche Bedeutung besteht nie »an sich«, sondern immer nur für den Sehenden, sowie das tiefste Gebet nur Worte sind, äußere Form; erst für den Betenden erhält es göttlichen Sinn.

Ich fühlte mich nicht berufen, diese Zeilen zu schreiben; aber die Verwunderung, daß niemand von der Zunft der Schreibenden und Denkenden diesen einfachen Sachverhalt vortrug, bewog mich schließlich doch dazu, in der Hoffnung, damit die Anregung zum Weiterarbeiten an diesen und ähnlich einfachen Gedanken zu geben. Vielleicht hängt doch der eine oder andere seine langweiligen ästhetischen Einwände an den Nagel.[120]


* ›Zur Kritik der Vergangenheit‹ (1914)

Ältere maschinenschriftliche Ausfertigung von Maria Marc und maschinenschriftliche Kopie des Herausgebers von 1948 nach dem inzwischen verschollenen Manuskript

Unveröffentlicht


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
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