〈27. Vorwort zum Katalog der Ersten Ausstellung, 2. Auflage*

Die isolierte Stellung des echten Künstlers im Volke ist heute eine naturgeschichtliche Notwendigkeit. Nichts kann zufällig und ohne organischen Grund geschehen. Wie töricht ist die Trauer über den Verlust des künstlerischen Zeitgefühls im neunzehnten Jahrhundert! Muß uns diese vielbeschrieene Tatsache nicht zu dem Gedanken leiten, daß wir heute an der Wende zweier langer Epochen stehen, ähnlich wie die Welt vor anderthalb Jahrtausenden, als es auch eine kunst- und religionslose Übergangszeit gab, wo Großes und Altes starb und Neues, Ungeahntes an seine Stelle trat? Die Natur wird den Völkern nicht ohne große Absichten Religion und Kunst mutwillig gemordet haben. Wir leben der Überzeugung, die ersten Zeichen der Zeit schon verkünden zu können.

Die ersten Werke einer neuen Zeit sind unendlich schwer zu definieren. Wer kann klar sehen, auf was sie abzielen und was kommen wird? Die Tatsache allein, daß sie existieren und heute an vielen von einander unabhängigen Punkten entstehen und von innerlicher Wahrheit sind, läßt es uns zur Gewißheit werden, daß sie die ersten Zeichen der kommenden neuen Epoche sind, Feuerzeichen von Wegsuchenden.

Die Stunde ist selten – ist es zu kühn, auf die seltenen Zeichen der Zeit aufmerksam zu machen?[151]


* Vorwort zum Katalog der Ausstellung ›Der Blaue Reiter‹, veranstaltet vom STURM, 2. Auflage (Oktober 1912?)

Aus: ›DER STURM: Der Blaue Reiter, Ausstellungskatalog‹.

Drittes Tausend 1914, S. 3

Manuskript verschollen


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
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