16.

[189] Warum wir heute reden wollen und das hehre Schweigegelübde brechen?

Weil jedes Schweigen seine Zeit und auch sein Ende hat. In allen reifen Zeiten, von vielen guten Geistern wurde es gebrochen. Als Jesus seine Stimme erhob, war eine solche Stunde und ein solches Ende da. Und noch einmal zu Luthers Zeiten. Und zum drittenmal, als unter J.J. Rousseau's Reden der uraltmenschliche Flagellantengeist wiedererwachte und die Selbstgeißelung des zarten Kulturvolkes jener Zeit einsetzte, die große französische Revolution. Ihr folgte freilich das schmerzlichste Mißverständnis der neueren Geschichte: Napoleon. Die Ehrsucht eines Einzelnen verdarb alles, jedenfalls das Beste: den Opfergedanken der Revolution.

Die Gefahr ist groß, daß er auch heute unerkannt bleibt. Das Schicksal Europas schwankt auf eines Messers Schneide. Es gibt nur ein Gebot: Daß Europa jetzt die Männer erstehen, die Genie und Kraft genug haben, den Bann der öffentlichen höchsten Meinung zu brechen, die Propheten und großen Unzeitgemäßen, die den Vorhang des Welttheaters lüften, daß der reife, alte Europäer der Kulisse gewahr wird und entsetzt zurückprallt vor der Leere seiner Lebensbühne.

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Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 189-190.
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