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[138] »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.« Er lauert in allen Ecken auf uns, und wenn er hervorbricht und wir ihm mit knapper Not entgehen, so wird man beglückwünscht. Man hat wieder einmal Glück gehabt, und so sieht man, daß das Glück doch gar nicht[138] so selten ist auf Erden. Es wird schon als ein Glück betrachtet, daß man überhaupt lebt. Wenn aber der Tod jemand plötzlich, ohne daß er es so recht merkt, wegrafft, so tröstet man und sagt: er hatte einen schönen Tod. Von der Geburt an ziehen wir Stunde für Stunde dem Unabwendbaren entgegen. Da möchte es gut sein, wenn man versuchte, sich ein wenig mit dem Unerbittlichen anzufreunden, und daraus sind bei unsern Altvordern die mit grimmem Humor ausgestalteten Totentänze entstanden. Es gibt Extratouren, wo der Tod ein Tänzlein mit uns wagen will. Es wird einem freilich etwas schwindlig, wenn die Tour zu Ende ist und der grimme Tänzer uns losläßt, uns noch einmal das Leben geschenkt hat, aber wir merken, daß es noch nicht der »Kehraus« war.

Der 26. Juli 1913 hätte für mich und meine Schwester der Todestag sein können. Es war wie ein Wunder, daß wir am Leben blieben. Es war nachts etwa 11 Uhr, als ich von meinem Schreibtisch aufstand, um meiner Schwester in dem kleinen Zimmer, in dem sie sich aufhielt, in dem wir öfters vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee tranken, gute Nacht zu sagen. Als ich das Licht im davorliegenden Zimmer ausdrehte, rief sie erregt: »Mach das Licht nicht aus«, ich war schon auf ihrer Türschwelle, als sie mir abwehrend entgegentrat und sagte: »Da rieselt von der Decke Staub herunter und ich habe die Sachen von der Kommode weggeräumt.« Ich wollte hinein, um den kleinen Riß in der Decke näher anzusehen. Agathe hielt mich zurück, und in dem Augenblick polterte der vierte Teil der Zimmerdecke, eine viele Zentner schwere Masse, vor unsern Füßen herunter, uns in eine Staubwolke einhüllend. Ein Schritt weiter und wir wären unfehlbar erschlagen worden. Der Zufall von einer Sekunde Zeit und von einem Schritte Raum hat uns gerettet. Wäre ich nicht im richtigen Moment aus meinem Schreibzimmer gekommen, so wäre Agathe, die noch wegräumen wollte, erschlagen worden, ein Tischchen und ein Lehnstuhl waren zusammengeknickt und ragten aus dem Schutthaufen hervor. Der Schlag wurde im ganzen Haus gehört, und die Mädchen und der Diener eilten herbei und standen mit Schreck vor der Verwüstung.

Es war eine der alten schweren Decken, die mit Lehmstrohwickel zwischen den Balken eingefügt war. Die Balken waren morsch geworden,[139] und so rutschten die haltlos gewordenen Massen hinunter. Nun war ein schwarzes Loch in der Zimmerdecke, und es war mir, als hätte der Tod schon lange auf den richtigen Moment gelauert, wo er und wenn die Sache nicht gar zu grausig gewesen wäre, so hätte ich ihn auslachen mögen, daß er um einen Augenblick zu früh losgeschossen hat – oder zu spät. –

Die Folgen waren aber für uns recht schwer, es war eine ängstliche Nachtwache, es knisterte noch in der Decke. Als am Morgen das Bauamt die Sache untersuchte, riet man uns, die Wohnung sogleich zu verlassen, da sämtliche Decken keine Sicherheit vor dem Herunterstürzen mehr böten und daß die ganze Wohnung vollständig neu hergerichtet werden müsse, daß sie also ganz ausgeräumt werden müsse. Die Herstellung brauche 3–4 Monate Zeit. Wir quartierten uns nun im Roten Haus ein und besorgten von dort aus die Umräumung in den Keller. Ein guter Zufall brachte uns in den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch zwei tatkräftige Helferinnen, zwei Freundinnen, die ahnungslos von Straßburg gekommen waren, uns zu besuchen. Als sie den Greuel sahen, telegraphierten sie gleich um Arbeitskleider, und umsichtig praktisch haben Frau Professor Anna Meyer und Frau Helene Böhlau al Raschid Hand angelegt und den Umzug in den Keller bewerkstelligen helfen. In ein paar Tagen war die große Wohnung geleert. Der Hausmeister der Galerie und der Diener haben sich auch trefflich bewährt. Agathe und ich waren nun obdachlos. Die erste Zeit während dem Räumen und auch nachher, wo so vieles zu ordnen war, waren wir im Gasthaus, später zogen wir in unser Marxzeller Häuschen, wo ich viel radierte.

Die Decken wurden nun heruntergeklopft, die morschen Balken ersetzt. Wir sahen jetzt, wie auch die Arbeiter sagten, daß wir schon lange der Einsturzgefahr ausgesetzt gewesen. Bei einer Stelle gerade über meinem Schreibtisch konnten die Arbeiter, die dort beschäftigt waren, sich mit knapper Not retten. Jetzt schreibe ich an der Stelle an meinem Lebenslauf. Mitte September folgten wir der Einladung unserer Frankfurter Freunde Küchler, wir wohnten in ihrem gastlichen Hause, und ich fühlte wieder, wie sehr mir Frankfurt doch zur Heimat geworden war. Ich sah[140] wieder, wie schön die Stadt und ihre ganze Lage und Umgebung ist, und die schönen Herbsttage wurden fleißig zu Ausflügen benutzt. Ein uns sein schönes Auto zur Verfügung, so daß wir auch die weitere Umgebung leicht wiedersehen konnten. Oberursel, Cronberg, Königstein usw. Das Maintal auf- und abwärts. Ost besuchte ich auch die Gräber, wo meine Vorausgegangenen nun schon ruhen, die Mutter und Cella, Gräber, die auch mich und Agathe einmal aufnehmen sollen. Das Wort Gottesacker klingt tröstlich, ich glaube, es ist den Bauernbegriffen entnommen, es schließt die Hoffnung auf Auferstehung in sich. Der Acker Gottes, Saat und Ernte sind damit umschlossen.

Diese Herbsttage in Frankfurt waren voll schwermütiger Erinnerung an vergangenes Erdenglück, so ferngerückt und doch durch die Wirklichkeit so gegenwärtig. Vielleicht läßt sich der Zustand, in dem ich mich befand, mit dem Wort: süße Wehmut, ausdrücken.

Im November kam die Nachricht, daß die Wohnung wieder hergestellt sei, und wir sahen der nicht geringen Aufgabe entgegen, sie wieder einzurichten. Wir wollten, solange der Einzug währte, im Gasthaus wohnen. Aber am Bahnhof nahmen uns Friedrich Blaue und die kleine Isa in Empfang, und als sie uns in das bereitstehende Auto führten und ich sagte: »Ins Hotel Große«, so schmunzelte Isa gar geheimnisvoll und sagte, sie hätten jetzt eine bessere Wohnung für uns gefunden, wir sollten nur mitkommen, und so fuhren wir erwartungsvoll mit und das Auto fuhr direkt Hans-Thoma-Straße 2, in die alte Wohnung. Dieselbe war vollständig eingerichtet und auf dem Tische dampfte der Tee. Unsere Ella und Friedrich hatten das ganze Einrichten besorgt, uns mit diesem Liebesdienst überrascht.

Ich freute mich so, daß ich nun gleich wieder an die Arbeit im Atelier gehen konnte.

Quelle:
Thoma, Hans: Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen, Jena 1919, S. 138-141.
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