Lebensführung

[184] Beethoven sagte kurz vor seinem Tode: »Ich halte mich für den unglückseligsten aller Menschen!« Ich glaube bestimmt, daß Franz Schubert und Hugo Wolf ganz Dasselbe empfanden. Von anderen Geistern gar nicht zu sprechen. Lauter echte Selbstmord-Kandidaten[184] ohne die geringste Fähigkeit dazu! Morgens erwachen, sich waschen, sich umziehen, irgendetwas unternehmen, ohne Ehrgeiz, ohne Bedürfnis, auf die Wanduhr ängstlich blicken, bis es 10 Uhr abends wird, aber es wird so bald nicht. Es fehlen Zündhölzchen, Seife, Zigaretten. Es fehlen wichtige Wäschestücke und Alles Alles muß bezahlt werden. Dabei gehen zugleich im Inneren die schrecklichsten und eigentlich stets dieselben Dinge vor. »Wozu denn das Alles?!?« Das »Personal« in unserem Hotel denkt an alle diese Dinge nicht. Sie arbeiten von 6 Uhr morgens bis 11 Uhr nachts. Und ihre Gespräche sind biblisch einfach. Nie eine besondere Aufregung über irgendetwas Besonderes. Immer nur nichtige unwichtige Kleinigkeiten. Und immer die gute Laune fleißiger von sich völlig abgelenkter Menschen. Aber Beethoven sagte kurz vor seinem Tode: »Ich bin der unglücklichste aller Menschen!« Wahrscheinlich dachten ganz dasselbe Franz Schubert, Hugo Wolf etc. etc. Wie merkwürdig belohnt sich »innere Bedürfnislosigkeit«. Aber belohnt sie sich denn wirklich?!? Keineswegs. Man tappt im Dunkeln seiner eigenen Tage, bis es irgendwie zu Ende geht. Das Nicht-Bedenken ist ein ununterbrochenes Denken über das Nicht-Bedenken alles seines unnötigen Seins!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 184-185.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]