Krankheit

[196] Ich bin seit vielen Wochen krank,

gänzlich unelastisch!

Also so wie alle Gesunden immer sind!

Wir aber haben mehr zu leisten, wie die nur Gesunden! Wir haben »elastisch« zu bleiben!

Wir müssen es versuchen, vermittelst unseres Geistes, unserer Seele, und ein wenig unseres von Schicksals Gnaden mitbekommenen (ein nettes Erbteil!?) Talentes,

den Anderen ihre schauerlichen Irrtümer über ihr eigenes, nur aus Stupidität und Feigheit bestehendes angeblich wertvolles Leben zu demonstrieren, damit wenigstens die nächste Generation nicht so töpelhaft gleichmütig bleibe dem gefährlichen Leben gegenüber!

Wenn ich krank bin und meine Lebens-Elastizität nicht mehr habe,

komme ich mir vor wie ein zur normalen Gesundheit tief Degradierter,

kurz wie ein Gesunder! Schauerlich![196]

Welche Interessen hat er?! Die Menschheit irgendwie über irgendetwas aufzuklären?! Keineswegs.

Sich selbst, ohne es zu können,

auf Kosten Anderer vorwärts zu drängen, zu schieben,

und Allen, die es sich gefallen lassen müssen,

ein X für ein U vorzumachen?!?

Meine Gesundheit ist: über alle

Verruchtheiten, die historisch »überkommen« sind,

von unelastischen angeblich normalen Gehirnen,

unerbittlich abnormal herabzuschauen,

und es ewig zu erhoffen,

daß die sogenannte gesunde Anschauung

der wirklichen Wahrheit über

alle Angelegenheiten dieses

heimtückischen Daseins, dieses

rätselhaft tief verlogenen Daseins,

endlich weiche, und daß die »Historie« durch einen einzigen Federstrich modernen Denkens für ewig ad acta gelegt werde!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 196-197.
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