Krisen

[229] 22./6. 1918


Wieder eine Krise von sechs Monaten besiegt, das schauerliche »Schlafmittel Paraldehyd« (es ist nicht schauerlich, ich bin schauerlich), ich nahm schließlich statt eines Likörglases vor dem Einschlafen zwanzig, eine Dosis, die sogar nach Professor Baron Wagner von Jauregg unbedingt zum »Delirium« führen muß und die sich Niemand, ohne Entziehungskur in einem Sanatorium, selbst abgewöhnen kann! Da brachte mir der junge Bildhauer D. von der italienischen Front eine Flasche herrlichen Schnaps[229] »Trebern«, und als ich sie ganz langsam (fünf bis sechs Stunden lang) ausgetrunken hatte, wußte ich nicht mehr, daß »Paraldehyd« überhaupt existiere, es war gelöscht durch diesen Alkohol, für ewige Zeiten! Leider ersetzte ich das »Schlafmittel« durch Wein, Wein, ein Gift für meine und auch Anderer Nerven, Riesling, der meinen Verdauungs-Apparat zerstörte und lähmte. Da erhielt ich wieder durch Zufall eine Flasche geschenkt, 50 Kronen Wert, »ältesten Sliwowitz, 1878«, und ich war vom »Gifte«, vom Wein errettet! Bier und Schnaps (in prima Qualität) sind offenbar die Anreger meiner Lebens-Maschinerie, Wein und Paraldehyd die Lähmer. Viel leicht können Nervenärzte von diesen aufrichtigen, allzu aufrichtigen Geständnissen jedoch lernen und neue Ausblicke, Einblicke gewinnen. Sonst hätten sie wirklich wenig Zweck! Aber »Schlafmittel-Vergiftung-Angewöhnung« durch starken Alkohol zu heilen momentan für immer, wäre eine medizinisch wertvolle Errungenschaft! Ohne langwierige beschwerliche und kostspielige Entziehungs-Kuren! Aber es muß unbedingt »Schnaps« sein, eine Konzentration! Was kann den Herren berühmten Nervenärzten daran liegen, es zu erproben?!? Skeptizismus ist unmodern und unbedingt historisch retardierend! Ich bin tiefst überzeugt, daß man alle Schlafmittel-Vergiftungen (eigentlich Lähmungen) durch die anregende, aufpeitschende, entgegengesetzt wirkende Wirkung von starkem, konzentriertem, bestem Alkohol, für Gehirn und Rückenmark, momentan fast beseitigen kann! Da erinnere ich mich Gott sei Dank aus meiner geliebten Jugend-Lektüre[230] »Brehms Tierleben«, daß man die schauerlich lähmende Wirkung des Bisses der Klapperschlange, Kobra, durch starken Schnapsrausch vollkommen, folgenlos, in Afrika bei den Negern, heile! Niemand wird dadurch zum Alkoholiker, es ist ein Heilmittel, an das man sich nicht gewöhnt! Mögen die Herren Nervenärzte an diesem »Essay« nicht größenwahnsinnig-unmenschlich wie stets vorübergehen!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 229-231.
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