Künstlerbrief

[320] Geliebte, gestattest Du es mir von ganzem Herzen, so, gerade so zu leben, zu jeglicher Stunde, wie ich ohne Dich bisher gelebt habe?!?

Ohne Opfer, die ich meiner neuen tiefen »Zuneigung« zu Dir zu bringen hätte!?

Gibst Du mich willig frei, indem Du mich durch Deine unbeschreibliche neue Persönlichkeit

eigentlich bindest, von allem Anderen abhältst?!

Kann Dein tiefster Triumph wirklich meine grenzenlose Freiheit sein?! Schwerlich.

Indem ich stets von Wanderzügen zu Dir zurückkehrte?!? Bedenke, wie Du da erst über mich siegtest!

Kannst Du, Geliebteste, solange warten, ob ich zurückkehre von allem Anderen im Leben, das ich vielleicht ebenso brauche für mein

Leben wie Dein getreues Warten?! Kannst Du mir Alles gönnen, was ich wirklich brauche, und mir nichts ängstlich mißgönnen?!?

[320] Kann Dir meine Entwicklung hinein in die Welt wichtiger werden

als Dein sogenanntes bequemes Dasein?!

Kannst Du in Dir, still leidend oder nicht leidend, mein stetiges Werden erleben als Dein eigenes höchstes Sein!?

Kannst Du noch mitgehen, liebevoll bereichert,

wo Du eigentlich nicht mehr mit gehen kannst?!? Vielleicht sogar nicht sollst?!?

Kannst Du mir jene Neue gönnen, die meinem

Leben momentan Das wird, was für die Forelle das schäumende Gebirgswasser?!

Kann Dir mein ganzes, mein unverfälschtes Sein wichtiger sein als Dein Dir bequemes privates eintöniges Glück?!?

Sage mir aufrichtig: Ja! Und ich werde es versuchen, so zu leben,

daß Du bei dieser Prüfung nicht allzu schimpflich durchfällst!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 320-321.
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