Sonntag.

[31] »Guten Abend!« sagte der Sandmann, Friedrich nickte und wandte das Bild des Urgroßvaters gegen die Wand um, damit es nicht, wie gestern, mitspreche.[31]

»Nun mußt Du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuß, der dem Hühnerfuße den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm that, daß sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!«

»Man kann auch des Guten zu viel bekommen!« sagte der Sandmann. »Du weißt wohl, daß ich Dir am liebsten etwas zeige! Ich will Dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Sandmann, aber er kommt zu niemand öfters als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf sein Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich schön, daß niemand in der Welt sie sich denken kann, und die andere ist so häßlich und greulich – es ist gar nicht zu beschreiben!« Und dann hob der Sandmann den kleinen Friedrich zum Fenster hinauf und sagte: »Da wirst Du meinen Bruder sehen, sie nennen ihn auch den Tod! Siehst Du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er nur ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem Kleide hat, die schönste Husarenuniform, ein Mantel von schwarzem Sammet fliegt hinten über das Pferd. Sieh, wie er im Galopp reitet!«

Friedrich sah, wie der Sandmann davon ritt und sowohl junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vorn, andere hinten auf, aber immer fragte er erst: »Wie steht es mit dem Zeugnisbuch?« – »Gut!« sagten sie allesamt. »Ja, laßt mich selbst sehen!« sagte er, und sie mußten ihm das Buch zeigen; alle die, welche »Sehr gut« und »Ausgezeichnet gut« hatten, kamen vorn auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte zu hören; die aber, welche »Ziemlich gut« und »Mittelmäßig« hatten, mußten hinten auf und bekamen die greuliche Geschichte; sie zitterten und weinten, sie wollten vom Pferde springen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich daran festgewachsen.

»Aber der Tod ist ja der prächtigste Sandmann!« sagte Friedrich. »Vor ihm ist mir nicht bange!«[32]

»Das soll auch nicht sein!« sagte der Sandmann. »Sieh nur zu, daß Du ein gutes Zeugnis hast!«

»Ja, das ist lehrreich!« murmelte des Urgroßvaters Bild. »Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!« Und nun war es zufrieden.

Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er Dir selbst diesen Abend mehr erzählen!

Quelle:
Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Leipzig 31[um 1900], S. 31-33.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Märchen
Märchen und Geschichten
Der Tannenbaum. Ein Märchen
Mutter Holunder und andere Märchen
Hans Christian Andersen Märchen: Bilder von Nikolaus Heidelbach. Sonderausgabe
Hans Christian Andersen:Sämtliche Märchen