Sie begehrt das Jesulein zu küssen

[64] 1

Du, meiner Seelen güldne Zier,

Du Freude, die dein Vater mir

Gesandt von seinem höchsten Thron,

Du Gottes und Marien Sohn,

Ich kann es ja nicht länger lassen,

Dich zu umhalsen und umfassen.


2

Ich nahe mich zu dir mit Fleiß,

Mein Himmel und mein Paradeis.

Ich sehne mich von Herzensgrund,

Dich zu berührn mit meinem Mund.

Ich neige mich zu deiner Krippen

Und küsse dich mit meinen Lippen.


3

Komm her, mein liebstes Brüderlein,

Ohn dich kann ich nicht länger sein.

Komm, komm mein Leben und mein Licht,

Ersetze mir, was mir gebricht.

Komm, komm, mit deiner Äuglein Strahlen

Mein finstres Herze hell zu malen.
[64]

4

Du bist der rechte Sonnenschein,

Der meine Seel macht lichte sein.

Du bist die Wonne, welche mich

Erfreuen kann ganz inniglich.

Nun bleib ich gerne hier auf Erden,

Du machst sie mir zum Himmel werden.


5

Dies aber bitt ich nur allein,

O allerliebstes Jesulein,

Daß du nicht weichen wollst von mir,

Damit dich möge für und für

Mein Herze schmecken, fühln und küssen

Und deiner, weil es lebt, genießen.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 64-65.
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