Sie singt von der eitlen Herrlichkeit der Welt

[356] 1

Was strebt und kriegt die Welt nach eitler Herrlichkeit,

Da doch derselben Glück vergehet mit der Zeit!

Wie eines Töpfers Werk bald wird zu nicht gemacht,

So bald fällt auch dahin all ihre stolze Pracht.


2

Trau mehr auf eine Schrift, die man ins Eis eingräbt,

Als wenn die eitle Welt betrüglich dich erhebt.

Sie teilt zwar Gaben aus und hat der Tugend Schein,

Gibt aber nichts darob, man kann versichert sein.


3

Man trau mehr einem Mann, der voll Betrügerei,

Als allem Glück der Welt und ihrer Heuchelei.

Sie ist voll falschen Wahns und schnöder Eitelkeit,

Hat lauter falschen Tand und falsche Fröhlichkeit.
[356]

4

Wo ist jetzt Salomon, der Weisest in der Welt?

Wo Samson, der vor war der allerstärkste Held?

Wo Absalon, der Fürst, mit seinem schönen Haar?

Und dann auch Jonathan, der so belieblich war?


5

Wo ist der Cäsar nun, der so erhaben saß?

Und wo der reiche Mann, der immer soff und fraß?

Wo ist nun Tullius und sein beredter Mund?

Wo Aristoteles, der so viel hat gekonnt?


6

So große Könige, so vieler Helden Mut,

So manches starke Reich, so überflüssigs Gut,

So treffliche Gewalt und so viel Herrn der Welt!

In einem Augenblick wird alles hingefällt.


7

Wie kurz ist doch dies Fest, die Herrlichkeit der Zeit,

Dem Schatten eines Mannes gleicht ihre Lust und Freud!

Sie mindert für und für den Lohn, der ewig währt

Und führt den Menschen ab, daß er zum Abgrund fährt.


8

O nichtigs Madenaas, o schlechter Erdenkloß,

O Tod, o Eitelkeit, was denkst du dich so groß!

Du weißt nicht, ob du noch erlebest einen Tag,

So tu doch allen Guts, weils noch geschehen mag.


9

Denn alles Fleisches Pracht, nach welchem man so rennt,

Wird in der heilgen Schrift ein blühend Heu genennt.

Gleichwie ein leichtes Blatt verjaget wird vom Wind,

So wird das Leben auch hinweggerafft geschwind.
[357]

10

Halt ja nicht das für dein, was du noch kannst verliern,

Denn was die Welt dir gibt, das tracht sie zu entführn.

Was droben ist, bedenk und sei ihm zugetan,

Glückselig, wer die Welt genug verachten kann.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 356-358.
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