III

[304] Es war zur frühen Morgenstunde. Das Licht war noch nicht wach, und rings lag alle Farbe wie im Traum und sprach wie aus dem Schlafe. Es war um die Zeit, wo vor dem Tage ein leichter Schauer einhergeht. Ein Leiterwagen, mit zwei Pferden bespannt, die schnaubend aus einer Futterbarre fraßen, stand vor dem Pfarrhofe, dessen beide Torflügel weit geöffnet waren; in dem Flur bewegte sich schwerfällig ein dickes Frauenzimmer, das bald nach dem Wagen, bald nach der Treppe sah, es war die Pfarrköchin, welcher die Abreise des Kaplans so naheging wie der Tod des früheren Pfarrers; beide, für deren Abfütterung sie doch eine so rechtschaffen lange Zeit gesorgt hatte, gingen ja auf Nimmerwiederkehr.

Jetzt ward es laut auf der Treppe, zwei Bauernbursche schleppten sich mit der einen der beiden großen Kisten. Der Kaplan wollte seine Kostbarkeiten nicht aus den Augen lassen; unter fortwährenden Ermahnungen zur Vorsicht zwängte er sich wiederholte Male zwischen Wand und Kiste vorbei und war den Trägern bald voraus, bald neben, bald hinterher und immer im Wege, und als im Flur die Dicke angerufen wurde und, statt zur Seite zu treten, kopflos gegen die Leute anrannte und der Kaplan mit aller Kraft anfaßte, wo[304] nichts zu halten war, da geschah, was bei solcher mit störender Umsicht geleiteter Verhinderung zu erwarten stand: Die Kiste fiel polternd zu Boden.

Wäre es zu Zeiten des Mittelalters gewesen, wo es noch fruchtete und man daher leichter darauf verfiel, der Kaplan hätte die beiden Bursche sicher in Bann getan, so aber begnügte er sich damit, unter Anrufung von »Jesus und Josef« die Hände über dem Kopfe zusammenzuschlagen.

»Ös verdangelten Dodeln«, sagte er zornig, »ös hauts mer ja alles zsamm!«

»Na ja«, sagte der eine und kraute sich die Wange, »freilich, jetzt sein wir Dodeln. Wir täten sich ja eh leichter, wenn nit d' Jungfer Sepherl im Weg stehn und einm der hochwürdig Herr nit allweil untern Füßen hrumrennen möcht.«

Die beiden Angeschuldigten ließen sich bedeuten. Die Pfarrköchin nahm, dem Kaplane wiederholt die Hand küssend und drückend, Abschied und ging, vor sich hin nickend, nach der Küche. Ja, ja, was man erlebt, wenn man alt wird!

Der alte Herr stieg die Treppe hinan und blieb in seiner Stube, bis das letzte Gepäckstück hinweggetragen worden war, dann folgte er mit dem Handkofferchen.

Als er aus dem Tore trat, empfahl sich der eine Bursche mit vielen Kratzfüßen in ein gut Angedenken bei dem hochwürdigen Herrn. Der gab ihm einige kleine Münzen. »Oh, so wär's nit gmeint gwesen«, beteuerte der Beschenkte, »derhalb was anznehmen, müßt er sich ja frei schämen« – dabei schloß er die Hand –, »ganz für umsonst hätt's sein solln« – und damit schob er sie in die Tasche.

Der andere Bursche befand sich auf dem Sitzbrette des Leiterwagens, knallte mit der Peitsche und machte sich recht schmal, denn neben ihm sollte Platz, viel Platz bleiben für den Herrn Kaplan; der reichte eben sein Kofferchen hinauf und war im Begriffe aufzusteigen, da schlich einer heran, der ihm vor wenig Stunden durch die Träume spukte, der Einsam war es.

»Du fahrst fort?« sagte er.[305]

»Wie d' siehst.«

»Schad, dich hab ich leiden mögen. Hätt da was für dich, weil d' schon a Freud an solchenen Geziefer hast.« Der Einsam zog aus der Hosentasche eine Tüte aus steifem Papier, voll Büge und Beulen.

»No laß schaun.« Der Kaplan rollte das Blatt auf und fand einen jener Käfer, die man, ihrer langen, schön geschwungenen Fühler wegen, Böcke nennt, und der vorliegende war einer der rarsten aus dieser Familie, man konnte lange suchen, eh man einen solchen fand. Der alte Herr schmunzelte, als er aber das Exemplar dem Auge näher brachte und merkte, daß dem Holzbocke beide Hörner geknickt waren und die Hälfte der Beine fehle, da ward er ärgerlich, zerknüllte das Ganze, wie er es in der Hand hatte, und warf es von sich. »So zugricht«, brummte er.

»Na ja«, sagte der Einsam, »hab's ja gwußt, nit reden darf man mit euereinm.«

Da der Kaplan eine eigentümliche Bewegung im Gesichte des Einsam wahrzunehmen glaubte, so bückte er sich rasch und nahm das Papier wieder auf. »Na, sei kein Esel«, sagte er, »gift hab ich mich halt ein klein wenig, weil d' mer das Vieh ganz aus der Form bracht hast, weiter nix! So ein Tierl is ja kein Ochs, hättst schon können auch heiklicher sein!« Gutmütig lächelnd schob er den Knäuel in die Tasche; alles, auch das Wegwerfen, hat ja seine Zeit. »Werd halt schaun, wie ich 'n auf gleich bring. Dank dir schön; nun, bhüt dich Gott!« Er klopfte ihm auf die Achsel. »Und sei jetzt fein gscheit, du!«

Der Einsam blickte mit geringschätzigem Lächeln nach dem Pfarrhofe und schüttelte den Kopf.

Der Kaplan war auf seinen Sitz geklettert. »Na, nit trutzen, lieber nachgeben, gscheit sein! Vorwärts!«

Der Wagen fuhr dahin.

Der Einsam stand, mit dem Rücken gegen den Pfarrhof, und sah dem Fuhrwerke nach. Plötzlich faßte ihn eine schwere Hand an der Schulter, rasch wandte er sich um und[306] befand sich dem Pfarrer gegenüber, blitzschnell mit einem Sprunge kehrte er sich ab und wollte fort.

»Fürchtest du dich vor mir?« fragte der Pfarrer.

Da blieb der Bursche stehen.

»Sagte ich nicht, wir werden uns schon noch treffen?« fuhr der Pfarrer fort. »Nun hätten wir uns getroffen, ich denke aber, es wird für keinen von uns so gefährlich ablaufen, wie du dir einzubilden scheinst.«

»Möcht's schon selber glauben; wann nur du nix anfangst, ich nit!«

»Du bist gekommen, vom Kaplan Abschied zu nehmen, warst du ihm denn so zugetan?«

»Weißt, er hat mir eben nie nix wolln, nit in Gutem noch im Üblen.«

»Hättest du ihm denn übelgenommen, wenn er dir Gutes gewollt?«

»Na schau, mir is halt lieber, es will mir einer nit so und nit anderscht.«

»Sage mir einmal, wie heißt du denn eigentlich?«

»Ich heiß nit anders wie der Einsam.«

»Du mußt doch Eltern gehabt haben, nennst du dich nicht nach ihnen?«

»Eltern? Hehe, no ja freilich, zwei müssen wohl dabeigwest sein, aber ich hab nur d' Halbscheid von sö kennt, mein Mutter, mit der ich d' längst Zeit in Fried glebt hab; die andere Halbscheid, dö sich weniger um mich kümmert hat, war mir zu kein Vierteil bekannt – und war dös zviel –, und war dös mein Unglück, derhalb die, von der ich gwußt hab, nix mehr von mir hat wissen wolln.«

»Sprich deutlich, rede dich aus.«

Der Einsam sah dem Pfarrer gerade ins Gesicht, dann neigte er den Kopf nach der Richtung, in der vorhin der Wagen davongefahren war, und sagte: »Der war nit so neugierig wie du.«

»Es geschieht nicht aus müßiger Neugierde, daß ich dich zur Offenheit auffordere, meine Pflicht legt mir das nahe.[307] Ich weiß, du bist eines schweren Verbrechens wegen in Haft gewesen, darum hat dich wohl deine Mutter verstoßen?«

»Aber sie war nit im Recht, wär sie im Recht gwesen, auf die Knie hätt ich mich vor ihr hingworfen und ihr Verzeihen erbettelt, aber sie ist nicht im Recht gwesen, und darum bin ich gegangen, wie sie mich weggwiesen hat, und bin ihr nimmer kommen, nit in ihrer Todesstund!«

»Du bereust nicht eine so schwere Tat?«

»Nein!«

»Du sagst so kurzweg nein?«

»Weil ich nit kann.«

»Wie, eine so furchtbare Versündigung, die einem deiner Mitmenschen den Tod brachte, ihn vorzeitig aller irdischen Freude, ja vielleicht sogar der ewigen, beraubte, da sie ihn unvorbereitet vor den Richterstuhl Gottes führte, die gilt dir nichts?«

»Versteh mich recht, wenn man ein in einm falschen Meinen aufwachsen laßt, da kann wohl sein Hand und sein Sinn beim Übeltun sein, aber sein Verschulden is nit dabei; darum, was mir schwer auf der Seel liegt, das is meiner Mutter aufs Gwissen gfallen, das hat sie unter die Erd bracht – doch nix von ihr, soll s' in Fried ruhn! Meinst aber, daß ich's den Leuten übelnahm, wann sie sich von mir fernhalten? Bewahr, ich selber möcht ja mit keinm verkehrn, wie ich einer bin. Ich und die Leut, wir taugen nit zsamm, und rechtswegen ghör ich gar nit da in d' Welt hnein!«

»Doch! Vertrau dich meiner Führung an, ich will dich mit Gott, der Welt und deinen Mitmenschen wieder versöhnen.«

»Da machst dir ungschaffte Arbeit und unternimmst ein unmöglich Ding. Als der Einsam, wie ich bin, find ich mich noch am gscheidesten in der Welt zrecht und mitn Leuten ab und dö sich mit mir. Mein Recht, wie im Buch steht, is mir wordn, auf ein Verzeihn, dös hab ich gsagt, steh ich nit an, und mehr wie der Herrgott wirst du wohl auch nit imstand sein, selb der kann Geschehnes nit ungschehn machen, und dös wär's alleinig, was mer half.«[308]

»Sei klug, laß dich zur guten Stunde bedeuten! Als eine Bitte von mir leg ich dir's ans Herz, mache wenigstens den Versuch, hause nicht weiter in der Wildnis, wohne dich unter den Menschen ein, lebe wie sie, suche da Trost und Erbauung, wo sie diese suchen, und du wirst dich beruhigter fühlen, und sie werden dich wieder wie ihresgleichen betrachten.«

»Sei doch nicht aufdringlich. Wenn ich schon selber sag, ich nahm mich niemal mehr dafür. Glaub wohl, daß s' gegen mich heucheln möchten, dir zlieb, soll ja auch der ganze Handel nit mir zlieb sein! Wie der Förster d' jung Hund abricht, jetzt wixt er s', drauf streichelt er ihnen 's Fell, nur damit er, wenn Gäst kommen, a Ehr aufhebt mit der Dressur, so willst auch du, daß ich fleißig in d' Kirch renn und bet, damit d' a Ehr aufhebst vor der Gmeind; ich laß mich aber nit dressieren. Laß mich verbleiben, wie ich bin, ich tu ja keinm ein Übel!«

»Sagt man nicht, daß du Feuer an die Scheunen legst, um die Bauern fürchten zu machen, so daß dir keiner Arbeit zu verweigern wagt?«

»Sagn tut mer's freilich«, grinste der Einsam, »aber gschehn is's nie; doch red ich nix dagegen und laß die Leut auch bei einm Glauben, von dem ich mein Nutzen zieh, just wie du, Pfarrer!«

»Bursche! – Ich seh wohl, mit dir ist im guten nichts zu richten, so sage ich dir denn kurz und bündig, ich werde dich nächsten Sonntag in der Kirche sehen –«

»Da müßt gute Augen haben.«

»Du wirst dich sonntags in der Kirche einfinden! In meiner Gemeinde soll sich keiner auf dich berufen, wie man wohlmeinenden Rat zurückweist und dahinlebt, ohne eine Pflicht gegen Gott noch Menschen anzuerkennen! Also entweder ...«

»Spar dein Entweder! Ich komm nit, dadrauf kannst Gift nehmen.«

»Du gehorchst nicht?«[309]

»Wer bist denn du?« schrie heftig der Einsam. »Was hast denn du mir z' schaffen?«

Da faßte ihn der Pfarrer an der Brust. »Lump, soll keiner Herr über dich sein?!«

»Weißt, Pfaff«, keuchte der Bursche, »tu dein Pratzel da weg, es möcht dich verdrießen, wenn ich dir eine draufhau.«

Der Pfarrer fuhr zurück, wie von einer Natter gestochen. So standen sie sich gegenüber, der Mann bleich, der Bursche glutrot vor Zorn.

»Elender«, zischte der Pfarrer zwischen den Zähnen hervor, »dann schnüre dein Bündel, falls du eines zu schnüren hast, deines Bleibens ist nicht länger. Du sollst fort!«

»Holst du mich vielleicht herunter?« höhnte der Einsam.

»An dir mich besudeln?! Die Gendarmen werden dich schon auszutreiben wissen.«

»Solln nur kommen, zeitweis bin ich ja auch Jäger, mein Stutzen hab ich gleich z' Hand.«

»Entsetzlicher Mensch, du sinnst darauf ...?«

»Sinn du nit! Zu sein, wie ich bin und wie ich mag, wenn ich niemand was in Weg leg, das ist mein Recht, und dadrum wehr ich mich gegen jeden, den d' auf mich hetzst; denn du selber – wie ös allmal, ob ös eins ins Leben setzts oder drum bringts –, du haltst dich fern dabei, und a gute Nase hast schon, denn da müßt doch der Teufel lachen, wenn sich a Pfaff mit einm Pfaffenbankerten rauft!«

»Was sagst du?«

»Mein Vater war grad so ein heiliger Mann wie du!«

»Barmherziger Gott!« stammelte der Pfarrer, dann streckte er die Arme abwehrend von sich und schrie: »Hinweg! Fort! Weit fort, mir aus den Augen!«

Lachend kehrte der Einsam den Rücken und wandte sich zähnebleckend wiederholt zurück, als er auf dem schmalen Fußsteige den Hügel hinabschritt.

Und die Sonne war über die Berge heraufgekommen, und das Tal lag im freundlichen, hellen Morgenlichte.[310]

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 304-311.
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