1. Wilde Rosen

Ich begrüße euch, ihr Rosen,

In der Freiheit wilder Pracht,

Eingewiegt von Sturmestosen,

Großgesäugt vom Thau der Nacht!

Nicht im traulichen Gehege,

In des Gartens Mutterschoß,

Ohne eines Gärtners Pflege

Wird das Kind der Berge groß.
[3]

Wolken, die sich niedersenken,

Wolken voll Gewitterglut,

Müssen seine Kelche tränken,

Tränken mit lebend'ger Flut.

Drüberhin im Abendrothe

Träumerisch die Höh'n erglüh'n,

Und der Blitz, der irre Bote,

Grüßt es im Vorüberflieh'n.


Einen Kranz von wilden Rosen

Wand das Schicksal mir in's Haar,

Mir, der Fremden, Heimathlosen,

In den Stürmen der Gefahr.

Wilde Rosen: – die Gedanken,

Voll von Lebens-Uebermuth,

Wuchernd auf in üpp'gen Ranken,

Prangend in Gewitterglut!
[4]

Doch zu früh ins wilde Leben

Trieb mich eine finstre Macht;

Meiner Jugend Bilder schweben

Einsam durch den Traum der Nacht!

Und von Mißgeschick zerschmettert

Klagt in Trauer mein Gemüth:

Meine Rosen sind entblättert,

Ihre Farbenpracht verglüht!


Einsam, wie dem Geisterzuge

Blinde Seher einst gelauscht;

Lausch' ich dem Gedankenfluge,

Der im Sturm vorüberrauscht –

Meines Lebens irre Geister,

Haltet ein auf mein Geheiß!

Euch beschwört der Zaubermeister,

Bannt euch in der Dichtung Kreis!
[5]

Und aus schönen, glüh'nden Nächten,

Und aus Träumen frei und kühn,

Will ich wilde Rosen flechten,

Die in ihrem Thau erblüh'n!

Flechten mir der Dichtung Rosen

In der Freiheit wilder Pracht,

Eingewiegt von Liebeskosen,

Großgesäugt vom Thau der Nacht!
[6]

Quelle:
Louise Aston: Wilde Rosen. Berlin 1846, S. 3-7.
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