12. Er ist gekommen.

[160] Barfüßele stand eines Sonntags Nachmittags nach ihrer Gewohnheit an die Thürpfoste des Hauses gelehnt und schaute träumend vor sich hin; da kam der Enkel des Kohlenmathes das Dorf herausgesprungen und winkte schon von fern und rief:

»Er ist gekommen! Barfüßele, er ist gekommen!«

Barfüßele zitterten die Kniee und mit bebender Stimme rief sie: »Wo ist er? wo?«

»Bei meinem Großvater im Moosbrunnenwald.«

»Wo? Wer? Wer schickt dich?«

»Dein Dami. Er ist drunten im Wald.«

Barfüßele mußte sich auf die Steinbank vor dem Hause setzen, aber nur eine Minute, dann bezwang sie sich selbst, richtete sich straff auf mit den Worten: »Mein Dami? Mein Bruder?«

»Ja, des Barfüßele's Dami,« sagte der Knabe treuherzig, »und er hat mir versprochen, du gäbest mir einen Kreuzer, wenn ich zu dir Boten gehe und es dir sage; jetzt gieb mir einen Kreuzer.«

»Mein Dami wird dir schon drei dafür geben.«

»O nein,« sagte der Knabe, »er hat ja zu meinem Großvater geheult, weil er keinen Kreuzer mehr habe.«

»Ich habe jetzt auch keinen,« sagte Bafüßele, »aber ich bleib' dir gut dafür.«[160]

Sie ging schnell zurück in's Haus, bat die Neben magd an ihrer Statt die Kühe zu melken, wenn sie zum Abend nicht wieder da sei; sie müsse schnell einen Gang machen. Mit Herzklopfen, bald im Zorn auf Dami, bald in Wehmuth über ihn und sein Ungeschick, bald in Aerger, daß er wieder da sei und dann wieder in Vorwürfen, daß sie ihrem einzigen Bruder so begegne, ging Barfüßele das Feld hinaus, das Thal hinab nach dem Moosbrunnenwald. Der Weg zum Kohlenmathes war nicht zu verfehlen, ob man gleich von dem Fußweg abseits gehen mußte. Der Geruch des Meilers führte unfehlbar zu ihm.

Wie singen die Vögel in den Bäumen und ein jammerndes Menschenkind wandelt drunter hin, und wie traurig muß es Dami sein, der das Alles wiedersteht, und es muß ihm hart gegangen sein, wenn er keinen andern Ausweg mehr weiß, als heim und sich an dich hängen und dich aussaugen. Andre Schwestern haben an den Brüdern eine Hülfe und ich ... Aber ich will dir jetzt schon zeigen, Dami, du mußt bleiben wo ich dich hinstelle und darfst nicht zucken.

In solcherlei Gedanken ging Barfüßele dahin und war endlich beim Kohlenmathes angekommen. Aber sie sah hier keinen Menschen außer dem Kohlenmathes, der vor seiner Blockhütte beim Meiler saß und seine Holzpfeife mit beiden Händen hielt und rauchte, denn ein Köhler thut es seinem Meiler nach und raucht immer.

»Hat mich Jemand zum Narren gehabt?« fragte sich Barfüßele. »O das wäre schändlich! Was thue ich[161] denn den Menschen, daß sie mich zum Narren haben? Aber ich krieg's schon heraus, wer das angestellt hat; der soll mir's büßen.«

Mit geballter Faust und flammenrothem Gesicht stand sie jetzt vor dem Kohlenmathes. Dieser hob kaum das Antlitz nach ihr, viel weniger daß er ein Wort redete; er war, so lang die Sonne schien, fast immer wortlos und nur des Nachts, wenn ihm Niemand in's Auge sehen konnte, sprach er viel und gern.

Barfüßele starrte eine Minute in das schwarze Antlitz des Köhlers und dann fragte sie zornig: »Wo ist mein Dami?«

Der Alte schüttelte mit dem Kopfe verneinend. Da fragte Barfüßele nochmals mit dem Fuße aufstampfend: »Ist mein Dami bei Euch?«

Der Alte legte die Hände aus einander und zeigte rechts und links, daß er nicht da sei.

»Wer hat denn zu mir geschickt?« fragte Barfüßele immer heftiger: »So redet doch!«

Der Köhler wies mit dem rechten Daumen nach der Seite, wo ein Fußweg sich um den Berg hinzog.

»Um Gotteswillen, saget doch ein Wort,« drängte Barfüßele vor Zorn weinend, »nur ein einziges Wort. Ist mein Dami da oder wo ist er?«

Endlich sagte der Alte: »Er ist da, dir entgegengegangen, den Fußweg,« und gleich als hätte er viel zu viel gesprochen, preßte er rasch die Lippen zusammen und ging um den Meiler.

Da stand nun Barfüßele und lachte höhnisch und wehmüthig über den einfältigen Bruder. »Er schickt[162] nach mir und bleibt doch nicht an einer Stelle, wo man ihn finden kann; und wenn ich jetzt den Weg hinauf gehe – wie konnte er nur glauben, daß ich den Fußweg gehe? das ist ihm jetzt gewiß auch eingefallen und er geht einen andern und ist nicht mehr zu finden und wir laufen um ein ander herum wie im Nebel.«

Barfüßele setzte sich still auf einen Baumstumpf und in ihr brannte es wie in dem Meiler, die Flamme konnte nicht ausschlagen, sie mußte still in sich verkohlen. Die Vögel sangen, der Wald rauschte, ach, was ist das Alles, wenn kein heller Ton im Herzen klingt ... wie aus einem Traum erinnerte sich jetzt Barfüßele, wie sie einst Liebesgedanken nachgehangen. Wie kommst du dazu, so etwas in dir aufkommen zu lassen? Hast du nicht Elend genug an dir und an deinem Bruder? Und der Gedanke dieser Liebe war ihr jetzt wie mitten im Winter die Erinnerung an einen hellen Sommertag. Man kann's nur glauben, daß es einst so sonnig warm gewesen, aber man weiß nichts mehr davon. Jetzt mußte sie lernen was »Warten« heißt: hoch oben auf einer Spitze, wo kaum eine Hand breit Boden; und wenn du erst weißt wie es ist, bist du im alten Elend und in noch größerem ...

Sie ging hinein in die Blockhütte des Köhlers, da lag ein Sack locker und kaum halb voll, und auf dem Sacke stand der Name des Vaters.

»O wie bist du herumgeschleppt!« sagte sie fast laut. Sie kam aber schnell über die Erregung des Gemüthes hinweg und wollte sehen, was denn Dami[163] wieder mit zurückgebracht. »Er hat doch mindestens die guten Hemden noch, die du ihm von der Leinwand der schwarzen Marann' hast machen lassen? Und vielleicht ist auch ein Geschenk von dem Ohm aus Amerika darin. Aber wenn er noch etwas Ordentliches hätte, wäre er dann zuerst zum Kohlenmathes im Wald? Hätte er sich nicht gleich im Dorf gezeigt?«

Barfüßele hatte Zeit diesen Gedanken nachzuhängen, denn das Sackbändel war wahrhaft kunstmäßig verknotet, und nur ihrer gewohnten Geschicklichkeit und Unablässigkeit gelang es, ihn endlich zu entwirren. Sie that Alles heraus was in dem Sacke war und mit zornigem Blicke sagte sie vor sich hin: »O du Garnichts! da ist ja kein heiles Hemd mehr. Du hast jetzt die Wahl, ob du Bettellump oder Lumpenbettler heißen willst.«

Das war keine gute Stimmung, in der sie den Bruder wieder begrüßen konnte, und dieser mochte es fühlen, denn er stand lauernd am Eingang der Blockhütte bis Barfüßele wieder Alles in den Sack gethan hatte. Dann trat er auf sie zu und sagte: »Grüß Gott Amrei! Ich bringe dir nichts als schwarze Wäsche, aber du bist sauber und wirst mich auch wieder ...«

»O lieber Dami, wie siehst du aus!« schrie Barfüßele und lag an seinem Halse, aber schnell riß sie sich wieder los und sagte:

»Um Gotteswillen, du riechst ja nach Branntwein. Bist du schon so weit?«

»Nein, der Kohlenmathes hat mir nur ein bischen Wachholdergeist gegeben, ich hab' auf keinem Bein mehr[164] stehen können; es ist mir schlecht gegangen, aber schlecht bin ich drum nicht geworden, das glaub' mir, ich kann dir's freilich nicht beweisen.«

»Ich glaub' dir. Du wirst doch das Einzige was du auf der Welt hast, nicht betrügen? O wie verwildert und elend siehst du aus! Du hast ja einen großen Bart wie ein Scherenschleifer. Das leid' ich nicht, den mußt du heruntermachen. Du bist doch sonst gesund? Es fehlt dir doch nichts?«

»Gesund bin ich und will Soldat werden.«

»Was du bist und was du wirst, das wollen wir schon noch überlegen, jetzt sag', wie es dir ergangen ist.«

Dami stieß ein Scheit halbverbranntes Holz, von den sogenannten unbrauchbaren Bränden mit dem Fuße weg und sagte: »Siehst du? Grad so bin ich; nicht ganz Kohle geworden und doch auch kein frisch Holz mehr.«

Barfüßele ermahnte ihn, er soll ohne Klage erzählen, und nun berichtete Dami eine lange, lange Geschichte, wie er es beim Ohm nicht ausgehalten, wie hartherzig und eigennützig der sei, besonders aber, wie ihm die Frau jeden Bissen mißgönnt habe, den er im Hause genoß, wie er dann da und dort gearbeitet, aber immer mehr die Hartherzigkeit der Menschen erfahren habe; in Amerika da könnte ein Mensch den Andern im Elend verkommen sehen und er schaut nicht nach ihm um. Barfüßele mußte fast lachen als in der Erzählung immer und immer wieder der Endreim vorkam: »Und da haben sie mich auf die Straße geworfen.« Sie konnte nicht umhin einzuschalten: »Ja, so bist du, du läßt dich immer werfen. Bist schon als[165] Kind so gewesen: wenn du einmal gestolpert bist, da hast du dich fallen lassen wie ein Stück Holz. Man muß aus dem Stolper auch einen Hopser machen, drum sagt man ja im Sprüchwort: von Stolpe nach Danzig (tanz ich). Sei lustig. Weißt, was man thun muß, wenn Einem die Menschen weh thun wollen?«

»Man muß ihnen aus dem Weg gehen.«

»Nein, man muß ihnen weh thun, wenn man kann, und am wehesten thut man ihnen, wenn man sich auf recht erhält und was vor sich bringt. Aber du stellst dich immer hin und sagst zur Welt: thu' mir gut, thu' mir bös, küss' mich, schlag' mich, wie du willst. – Das ist leicht. Du lässest dir Alles geschehen und dann hast du Erbarmen mit dir selbst. Wär' mir auch recht, wenn mich ein Anderes da und dort hinstellte, wenn ich's nicht selbst zu thun hätte; aber du mußt jetzt selbst Einsteher für dich sein, hast dich genug in der Welt herumstoßen lassen, jetzt zeig' einmal den Meister.«

Vorwürfe und Lehren werden einem Unglücklichen gegenüber oft zu ungerechten Härten und auch Dami nahm die Worte der Schwester als solche. Es war fürchterlich, daß sie es nicht einsah, wie er der unglücklichste Mensch auf der Welt sei. Sie mochte ihm noch so streng vorhalten, daß er das nicht glauben möge und wenn er es nicht glaube, so sei es auch nicht der Fall. Aber das Schwierigste von Allem ist: einem Menschen den Glauben an sich beizubringen; die Meisten gewinnen ihn erst, nachdem ihnen Etwas gelungen ist.[166]

Dami wollte der herzlosen Schwester kein Wort weiter erzählen und erst später gelang es ihr, daß er ausführlich von seinen Fahrten und Schicksalen berichtete und wie er zuletzt als Heizer auf einem Dampfschiff nach der alten Welt zurückgekehrt sei. Indem sie ihm jetzt seine selbstquälerische Weichmüthigkeit vorhielt, ward sie inne, daß auch sie nicht frei davon war.

Durch den fast ausschließlichen Verkehr mit der schwarzen Marann' hatte sie sich gewöhnt, immer so viel von sich zu reden und an sich zu denken, und sie war in ein schweres Wesen gerathen. Jetzt, indem sie den Bruder aufrichtete, that sie es auch unwillkürlich mit sich selbst; denn das ist die geheimnißvolle Macht des Menschenzusammenhanges, daß wir immer, indem wir Anderen helfen, uns selbst mit helfen.

»Wir haben vier gesunde Hände,« schloß sie, »und da wollen wir sehen, ob wir uns nicht durch die Welt durchschlagen, und durchschlagen ist tausendmal besser als sich durchbetteln. Jetzt komm', Dami; jetzt komm' mit heim.«

Dami wollte sich im Orte gar nicht zeigen, er fürchtete sich vor dem Gespötte, das von allen Seiten auf ihn losbreche, er wollte vor der Hand noch versteckt bleiben; aber Barfüßele sagte ihm: »Jetzt gehst mit, am hellen Sonntag, und mitten durch das Dorf, und läßst dich ausspotten. Laß sie nur reden und deuten und lachen, dann bist du fertig und bist's los, hast den bittern Kolben auf einmal verschluckt und nicht tropfenweis.«

Erst nach vielem und heftigem Widerstreben und[167] erst nachdem der schweigsame Kohlenmathes auch sein Wort und Barfüßele Recht gegeben hatte, ließ Dami sich führen. Und in der That hagelte und regnete es von allen Seiten bald grob, bald spitz auf des Barfüßele's Dami los, der auf Gemeindekosten eine Vergnügungsreise nach Amerika gemacht habe. Nur die schwarze Marann' nahm ihn freundlich auf und ihr zweites Wort war: »Hast du nichts von meinem Johannes gehört?«

Dami konnte keine Kunde geben. Und in doppelter Weise mußte Dami heute Haar lassen, denn noch am Abend brachte Barfüßele den Bader, der ihm den wilden Vollbart abnehmen und ihm das landesübliche glatte Gesicht geben mußte.

Schon am andern Morgen wurde Dami auf's Rathhaus beschieden, und da er davor zitterte, er wußte nicht warum, versprach Barfüßele ihn zu begleiten und das war gut, wenn es gleich nicht viel half.

Der Gemeinderath verkündete Dami, daß er aus dem Ort ausgewiesen sei; er habe kein Recht hier zu bleiben, um vielleicht der Gemeinde wieder zur Last zu fallen.

Alle Gemeinderäthe staunten, da Barfüßele hierauf erwiderte:

»Ja wohl, Ihr könnet ihn ausweisen; aber wisset Ihr wann? Wenn Ihr hinausgehen könnt auf den Kirchhof, dort wo unser Vater und unsere Mutter liegt und wenn Ihr zu den Begrabenen sagen könnt: Auf! geht fort mit Eurem Kind! – Dann könnt Ihr ihn ausweisen. Man kann Niemand ausweisen aus dem[168] Ort, wo seine Eltern begraben sind, da ist er mehr als daheim; und wenn's tausend und tausendmal da in den Büchern steht (sie deutete auf die gebundenen Regierungsblätter) und anders stehen mag, es geht doch nicht und Ihr könnet nicht.«

Ein Gemeinderath sagte dem Schullehrer in's Ohr: »Diese Reden hat das Barfüßele von niemand Anders gelernt als von der schwarzen Marann'!« Und der Heiligenpfleger neigte sich zum Schultheiß und sagte: »Warum duldest du, daß das Aschenbuttel so schreit? Klingle dem Schütz, er soll sie in's Narrenhäusle stecken.«

Der Schultheiß aber lächelte und erklärte Barfüßele, daß sich die Gemeinde von allen Ueberlasten, die ihr durch den Dami werden könnten, losgekauft habe, indem sie den größten Theil des Ueberfahrtsgeldes für ihn auslegte.

»Ja, wo ist er denn jetzt daheim?« fragte Barfüßele.

»Wo man ihn annimmt, aber hier nicht und vor der Hand nirgends.«

»Ja, ich bin nirgends daheim,« sagte Dami, dem es fast wohl that, immer noch mehr unglücklich zu sein. Jetzt konnte es doch Niemand läugnen, daß es keinem Menschen auf der Welt schlechter ginge als ihm.

Barfüßele kämpfte noch dagegen, aber sie sah bald, hier half nichts, das Gesetz schien wider sie und nun betheuerte sie, daß ihr eher das Blut unter den Nägeln hervorfließen solle, ehe sie je wieder etwas für sich und ihren Bruder von der Gemeinde annehme und sie versprach alles Erhaltene zurückzuerstatten.[169]

»Soll ich das auch in's Protokoll nehmen?« fragte der Gemeindeschreiber die Umsitzenden und Barfüßele antwortete: »Ja, schreibet's nur, bei euch gilt ja doch nur das Geschriebene.« Barfüßele unterzeichnete das Protokoll, aber als dies geschehen war, wurde Dami dennoch verkündet, daß er als Fremder die Erlaubniß habe: drei Tage im Dorfe zu bleiben, wenn er bis dahin kein Unterkommen gefunden, werde er ausgewiesen und nöthigenfalls mit Zwangsmitteln über die Grenze gebracht.

Ohne weiter ein Wort zu sagen verließ Barfüßele mit Dami das Rathhaus, und Dami weinte darüber, daß sie ihn unnöthig gezwungen habe, in's Dorf zurückzukehren; er wäre besser im Wald geblieben und hätte sich damit den Spott und jetzt den Kummer erspart, zu wissen, daß er aus seinem Heimathsort als Fremder ausgewiesen sei. Barfüßele wollte ihm erwidern, daß es besser sei, wenn man Alles klar wisse und sei es auch das Herbste; aber sie verschluckte das, sie selber fühlte, daß sie alle Kraft brauche, um sich aufrecht zu erhalten; sie fühlte sich auch ausgewiesen mit ihrem Bruder und sie empfand es, daß sie einer Welt gegenüber stand, die sich auf Macht und Gesetze stützte und sie selber hatte nur die leere Hand; aber sie hielt sich jetzt aufrechter als je.

Das Ungeschick und Mißgeschick Dami's drückte sie nicht nieder, denn so ist der Mensch: hat er ein Schmerzen das ihn ganz erfüllt, dann trägt er ein anderes, und sei es noch so schwer, oft leichter, als wenn es allein gekommen wäre. Und weil Barfüßele[170] ein unnennbares Wehe empfand, gegen das sie nichts thun konnte, trug sie das nennbare, gegen das sie wirken konnte, um so williger und freier. Sie gönnte sich keine Minute der Träumerei mehr und ging immer mit straffen Armen und mit geballter Faust hin und her, als wollte sie sagen: wo ist denn die Arbeit und sei es auch die schwerste, ich nehme sie über mich, wenn ich nur mich und meinen Bruder aus der Abhängigkeit und Verlassenheit herausbringe. Sie dachte jetzt selber daran mit Dami in's Elsaß zu wandern und dort in einer Fabrik zu arbeiten. Es kam ihr schrecklich vor, daß sie das sollte; aber sie wollte sich dazu zwingen. Wenn nur der Sommer vorüber war, dann sollte es fortgehen, und Lebewohl Heimath! Wir sind ja auch daheim in der Fremde.

Der nächste Annehmer, den die beiden Waisen in der Ortsregierung gehabt hatten, war jetzt machtlos. Der alte Rodelbauer lag schwer krank danieder und in der Nacht nach der stürmischen Gemeinderathssitzung verschied er.

Barfüßele und die schwarze Marann' waren diejenigen, die am meisten bei seiner Beerdigung auf dem Kirchhofe weinten. Die schwarze Marann' sagte auf dem Heimwege noch als besonderen Grund: »Der Rodelbauer ist der letzte noch Lebende gewesen, mit dem ich einstmals in meinen jungen Jahren getanzt habe. Mein letzter Tänzer ist nun gestorben.«

Bald aber hielt sie ihm eine andere Nachrede, denn es zeigte sich, daß der Rodelbauer, der Barfüßele so jahrelang darauf vertröstet, sie in seinem Testamente[171] gar nicht erwähnt, viel weniger ihr etwas vererbt hatte. Als die schwarze Marann' gar nicht aufhören wollte mit Klagen und Schelten, sagte Barfüßele: »Das geht jetzt in Einem hin, es ist nun einmal so, es hagelt jetzt von allen Seiten auf mich los; aber die Sonne wird schon wieder scheinen.«

Die Erben des Rodelbauern schenkten indeß Barfüßele einige Kleider des Alten; sie hätte sie gern zurückgewiesen, aber durfte sie es wagen, jetzt noch mehr Trotz kund zu geben? Auch Dami wollte die Kleider nicht annehmen, aber er mußte nachgeben. Es schien einmal sein Loos, in den Kleidern allerlei Abgeschiedener sein Leben zu verbringen.

Der Kohlenmathes nahm Dami zu sich in den Wald zum Meiler, und Zuträger sagten dem Dami, er solle nur einen Proceß anfangen, man könne ihn nicht aus weisen, weil er noch an keinem andern Orte angenommen sei, das sei stillschweigende Voraussetzung beim Aufgeben des Heimathsrechtes.

Die Leute schienen sich fast daran zu erlustigen, daß die armen Waisen weder Zeit noch Geld hatten, einen Rechtsstreit anzufangen.

Dami schien sich wohlzugefallen in der Einsamkeit des Waldes. Es war so nach seiner Art, daß man sich nicht an- und auszuziehen brauchte, und jedesmal am Sonntag Nachmittag kostete es Barfüßele einen Kampf, bis sich Dami nur ein bischen reinigte; dann saß sie bei ihm und dem Mathes, und man sprach wenig, und Barfüßele konnte ihre Gedanken nicht abhalten, daß sie in der Irre umhergingen in der Welt und[172] Den suchten, der sie einst einen ganzen Tag so glücklich gemacht und in den Himmel gehoben hatte. Wußte er nichts mehr von ihr und dachte er nicht mehr an sie? Kann denn der Mensch den andern vergessen, mit dem er einmal so glücklich war?

Es war am Sonntag Morgen gegen Ende Mai, Alles war in der Kirche. Es hatte am Tage vorher geregnet. Ein frischer erquickender Athem hauchte von Berg und Thal, denn die Sonne schien hell hernieder. Auch Barfüßele hatte in die Kirche gehen wollen, aber sie lag wie festgebannt unter dem Fenster, während es läutete, und sie versäumte die Kirche. Das war seltsam und noch nie geschehen. Nun da es zu spät war, entschloß sie sich, allein zu bleiben und daheim in ihrem Gesangbuch zu lesen. Sie kramte in ihrer Truhe und war überrascht von allerlei Sachen, die sie besaß. Sie saß auf dem Boden und las eben einen Gesang und summte ihn halb laut vor sich hin, da regte sich etwas am Fenster. Sie schaute sich um: eine weiße Taube steht auf dem Simse und schaut nach ihr, und wie sich die Blicke des Mädchens und der Taube begegnen, fliegt die Taube davon und Barfüßele schaut ihr nach, wie sie hinausfliegt über das Feld und sich dort niederläßt. Dieses Begegniß, das doch so natürlich war, macht sie plötzlich ganz froh, und sie nickt immer hinaus in's Weite nach den Bergen, nach Feld und Wald. Sie ist den ganzen Tag ungewöhnlich heiter. Sie kann nicht sagen warum, es ist ihr, als ob ihr eine Freude in der Seele jauchzte, sie weiß nicht woher sie kam. Und so oft sie auch am Mittag an die Thürpfoste gelehnt, den Kopf schüttelt[173] über die seltsame Erregung die sie spürt: sie weicht nicht von ihr. »Es muß sein, es muß doch sein, daß so Jemand an dich gedacht hat; und warum kann das nicht sein, daß so eine Taube der stille Bote ist, der mir das sagt? Die Thiere leben doch auch auf der Welt, wo die Gedanken der Menschen hin und her stiegen, und wer weiß, ob sie nicht Alles still davon tragen.«

Die Menschen, die an Barfüßele vorübergingen, konnten nicht ahnen, was für ein seltsames Sinnen sich in ihr bewegte.

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 1. neu durchgesehene Gesammtausgabe, Band 9, Stuttgart und Augsburg 1857, S. 160-174.
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