Der Unerwartete.

[72] An seines Vaters Bett, der ächzt in Todesqual,

Spricht sinnend Harpagon vor diesen spitzen Zügen:

Im Speicher haben in genügend großer Zahl

Wir alte Bretter doch liegen?


Und Celimene gurrt: Mein Herz ist gut und weich,

Und Schönheit gab mir Gott, die mir gar lieb und teuer.

Ihr Herz! Ein hartes Herz, verrauchtem Schinken gleich,

Verdorrt in dem ewigen Feuer.


Ein stumpfer Schreiber, der für einen Geist sich hält,

Sagt zu dem Armen, den er stieß in Wind und Wetter:

Sag an, wo siehst du ihn, den Schöpfer deiner Welt,

Deinen gütigen Herrn und Erretter?


Wohl mehr als alle Welt kenn einen Wüstling ich,

Der, gähnend Tag und Nacht, mit kläglichen Gebärden

Gelobt, der schwache Narr: Ach glaubt mir, sicherlich

Will ich morgen tugendhaft werden.


»Nun ist der Frevler reif« tickt unheilvoll die Uhr,

Umsonst, daß warnend ichs dem kranken Fleische sagte,

Der Mensch ist taub und blind, so schwach sind Mauern nur,

Die ein Wurm bewohnt' und zernagte.


[73] Und jäh ist Einer da, der stets geleugnet ward,

Und spricht mit stolzem Hohn: »Glaubt nicht, daß ich vergesse,

Wie um die Hostie ihr euch freudig oft geschart,

Zur Feier der schwarzen Messe!


Ein jeglicher von euch gab mir sein Herz zum Thron,

Verruchte, ihr seid mein, durch Küsse tiefabscheulich.

Lernt Satan kennen nun an seinem Siegerhohn,

Wie die Welt gigantisch und greulich!


Bestürztes Heuchlerpack! Wer ist, der glauben kann,

Daß man den Herren höhnt und fängt in einem Netze,

Und daß der Mensch zugleich zwei Preise je gewann,

Den Himmel und irdische Schätze?


Es ziemt sich, daß das Wild bezahlt den Jäger macht,

Der auf dem Anstand lang gelauert auf die Beute,

Nun trage ich euch fort durch sonnenleere Nacht,

Meiner traurigen Lust Geleite,


Durch Erde und Gefels, durch mitternächtges Graun,

Durch einen Aschenhauf zerfallener Gebeine

In mein gewaltig Schloß, aus einem Block gehaun,

Und nicht aus sänftlichem Steine.


[74] Denn ewge Sünde schuf den Bau, und er enthält

Mein Leiden und den Gram, der meinem Stolz verbündet!«

Indes drommetet hoch ob der erstarrten Welt

Ein Engel, der Sieg verkündet,


Von allen, deren Brust des Herren Geißel preist

Und ausruft: Meinen Schmerz schickt, Vater, deine Gnade!

Kein eitel Spielzeug ist in deiner Hand mein Geist,

Unerforschlich sind deine Pfade.


Wie die Trompete süß und feierlich erklingt,

Zur Himmelsernte der geweihten Dämmerungen,

Daß mit Verzückung sie ein jedes Herz durchdringt,

Dessen Loblied sie gesungen.

Quelle:
Baudelaire, Charles: Blumen des Bösen. Leipzig 1907, S. 72-75.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Blumen des Bösen (Auswahl)
Die Blumen des Bösen
Les Fleurs du Mal /Die Blumen des Bösen: Franz. /Dt
Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
Die Blumen des Bösen

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