Mitternächtige Selbsterforschung.

[75] Die Wanduhr kündet Mitternacht,

Als ob sie höhnend uns frage,

Welch einen Gebrauch vom Tage,

Der nun entschwunden, wir gemacht:

Diesen Freitag, den schicksalsschweren,

Den dreizehnten, haben mit Lust

Wir trotz allem, was wir gewußt,

Gelebt, als ob Ketzer wir wären.


Wir lästerten Jesum Christ,

Den göttlichsten aller Götter!

Wie ein Schmarotzer und Spötter,

Der bei verruchtem Krösus ißt,

Wir haben, dem Tier zu behagen,

Der Dämonen Sklavenschar,

Umschmeichelt, was feind uns war,

Und was uns lieb war, geschlagen.


Gleich Henkern haben am Schwachen wir,

Den man unrecht höhnt, uns verschuldigt,

Der Macht der Dummheit gehuldigt,

Die ehrner Stirn ist, wie ein Stier;

Wir küßten des Staubes Dumpfheit

Und gingen ihm ehrfurchtsvoll nach,

[76] Wir priesen der Fäulnis Schmach

In all ihrer bleiernen Stumpfheit.


Dann saßen, um des Schwindels Qual

Zu ertränken in wilder Feier,

Wir stolzen Priester der Leier,

Denen ihr ruhmvoll Amt befahl

Des Dunkels Rausch zu entdecken,

Ohne Hunger genießend beim Schmaus! ...

Rasch, löschen die Lampe wir aus,

In der Finsternis uns zu verstecken!

Quelle:
Baudelaire, Charles: Blumen des Bösen. Leipzig 1907, S. 75-77.
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Die Blumen des Bösen (Auswahl)
Die Blumen des Bösen
Les Fleurs du Mal /Die Blumen des Bösen: Franz. /Dt
Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
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