Der fromme Ritter

[619] Es war einmal ein tapfrer Rittersmann, der war gar ehrbar und fromm, mannlich im Streite, gottesfürchtig daheim. Wenn er von seiner Burg ausritt, oder zu ihr hinritt, führte ihn der Weg jedesmal über einen großen Leichenacker, auf welchem schon in uralten Heidenzeiten die Toten aus dem ganzen Gau verbrannt worden waren, deren Asche man dann in hohen Hügeln beisetzte; später war dort eine Schlacht geschlagen worden, und man hatte die in derselben Gefallenen ebenfalls an Ort und Stelle beerdigt; in der christlichen Zeit war eine Gottesackerkirche dorthin gebaut worden, und eine Anzahl nahe liegender Dorfgemeinden begrub nahe derselben, wo auch der Weg nach des Ritters Burg vorüberführte, ihre Verstorbenen. – So oft nun der fromme Ritter zum Kampfe ritt oder wenn er heimkehrte, sprach er jedesmal, wenn er an der Totenkirche vorüberkam, ein Gebet für die Ruhe der Toten.

So ritt er furchtlos und gottgetrost zu jeder Tages- oder Nachtzeit über den stillen Leichenacker, im Dunkel der Nacht, oder im klaren Mondscheine, der die weißen Grabsteine hell beleuchtete, und mit seinem Silberschimmer die seitwärts gelegenen, uralten grünen Hünenhügel überspann.

Eines Tages war der fromme Ritter auch ausgezogen und hatte seine Geschäfte verrichtet, als ihm gegen Abend eine[619] feindliche Schar auf seinem Heimwege in einem Hinterhalte auflauerte, und ihn plötzlich mit Macht angriff. Zwar fürchtete er sich keineswegs, zog vielmehr seine gute Wehre und verteidigte sich tapfer gegen seine Widersacher, allein er war nur ein Mann und jener waren viele, daher blieb ihm nichts übrig, als Flucht, zu der er rasch sein treues Roß wendete. Aber alsbald war die ganze Schar seiner Verfolger hinter ihm her, mit wildem Geschrei und Toben, und der fliehende Ritter mußte auf Tod und Leben reiten; es war eine wilde Jagd. Da erreichte der Fliehende das Totenfeld, darüber reitend er so oft gebetet hatte: »Aus der Tiefe rufe ich Herr zu Dir!« die Worte des einhunderteinunddreißigsten Psalms, den man für die Ruhe und den Frieden der Toten betet, und zur Vergebung der Sünden. Diesesmal aber vermochte der Ritter nicht, den ganzen Psalm zu sprechen, er sprach nur in seiner Angst: »Aus der Tiefe – aus der Tiefe –«

Und siehe, da stieg es aus der Tiefe – aus den Männergräbern, scharenweis, die bleichen Gerippe, die hohen Hünen, die entschlafenen Mannen, und hoben bewehrte Arme, und standen zwischen dem fliehenden Ritter, und zwischen seinen Feinden und Verfolgern, eine beinerne Mauer, und jenen ergrausete die Seele und die Rosse scheuten und sprangen sich bäumend zurück.

Sicher kam der fromme Ritter zurück nach seiner festen Burg, und nie wieder wagten seine Feinde, ihm aufzulauern. Die Toten, für die er gebetet, hatten ihn dankbar und treu geschirmt.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen. München 1971, S. 619-620.
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