10. Der Pilatus und die Herdmanndli

[23] In der ganzen Schweiz, im Berner und Luzerner Land, im Haslital und fast allenthalben gehen Sagen von Zwergen und Berggeistern, die sich vielfach ähnlich sind. Absonderlich viel Redens ist von dem hohen Berge Pilatus und den Zwergen, die sonst in seinem Geklüft wohnen, die heißen Herdmanndli. Der Pilatus, das ist der rechte und wahre Broch- oder Brockenberg der Schweiz, auf welsch Fraxmont (mons fractus) geheißen, auf lateinisch aber mons pileatus, Hutberg, weil im Land die bekannte Rede geht:


Hat der Pilatus einen Hut,

So steht im Land das Wetter gut.


Aber es geht die Sage, daß nach Christi unseres Herrn Leiden, Tod und Auferstehung der römische Landpfleger Pilatus in dieses Land gezogen sei, oder gar, daß der Satan seinen Leichnam hergetragen, und da habe er am Berge den ungeheuerlichen See gefunden, der hat weder Zu- noch Abfluß und ist wegen der unergründlichen Tiefe schwarz und gräßlich anzusehen, ein unheimlicher Moorgrund. Lange hat die Sage gelebt, daß, wer etwas in den See werfe, alsbald ein heftiges Unwetter mit Hagel und Wolkenbrüchen errege, wie auch das Gewässer den Krienser Boden und Luzern, die Stadt, in den Jahren 1332 und 1475 in große Not gebracht, darum hat man Fremde nicht gern hinzugelassen, und das Hineinwerfen von Steinen oder Holz bei Leib- und Lebensstrafe verboten. In diesen See habe sich der römische Landpfleger gestürzt, weil sein Gewissen ihn fort und fort gepeinigt, andere sagen, der Teufel habe ihn hineingesteckt. Die Herdmanndli, die wohnten vielfach in der Pilatushöhle, die hoch oben liegt, tief und schaurig. Sie waren den Menschen gar gut und hülfreich, gar »gespäßige Lüet«, wie die Hirten sagen, sie verrichteten nachts der Menschen Arbeit; kamen vom Berg auch herunter in die Täler, schafften und ackerten redlich, und ein Herdmanndli konnte mehr verrichten als zehn Meister mit allen Knechten. Aber sehen ließen sich die Manndli[23] wunderselten, und auch da hatten sie lange graue Kutten an, die bis auf die Erde reichten, daß man nimmer ihre Füße sah. Einem Hirten begegnete es, daß er einen reichtragenden Kirschbaum oben am Berge hatte, dem pflückten die geschäftigen Zwerglein die Kirschen ab und brachten sie zum Trocknen auf die Hürden, daß hernach gutes Kirschwasser gebrannt werden konnte, der Hirt ward aber neugierig, zumal mocht' er gern die Füße der Herdmanndli sehen, war her und streute Asche rings um den Baum, als die Früchte im nächsten Jahre wieder reiften. Die Herdmanndli kamen, pflückten redlich die Kirschen ab, und am Morgen sah der Hirt ihrer Füßlein Spur in der Asche. Es waren eitel kleine Gänsefüße. Der Hirte lachte und sagt' es freudig seinen Genossen an, daß er nun wisse, was für Füße die Herdmanndli haben. Die Zwerge aber ergrimmten, zerbrachen des Hirten Dach und Fach, versprengten seine Herde, zerknickten den Kirschbaum Ast um Ast, und ihrer keines kam jemals wieder herunter, den Menschen hülfreich zu sein. Sie blieben droben in ihrer tiefen Höhle und in ihrem Geklüft wohnen. Der Hirte aber wurde ganz tiefsinnig, schlich bleich umher und hat nicht lange gelebt.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 23-24.
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