22. Der Stierenbach

[30] Vom Surenenberge und seiner Alpentrift fließt ein Bächlein, das führt den Namen Stierenbach, und hat es davon im Engelbergstale und im Urner Lande eine gar wundersame Sage. Ein Alpenhirte hatte bei seiner Herde ein Lieblingslamm, wußte gar nicht, was er dem Tiere alles zugute tun sollte, und gab dem Lamme sogar den Namen Christian; das hätte wohl immer noch nicht so viel geschadet, denn Hirten und Schäfer, Kutscher und Eseltreiber nennen ihre Tiere häufig mit solchen Christennamen, wie Hans und Michel, Gret und Liese, aber der Surenenälpler trieb die Affenliebe zu dem Lamm allzuweit, wie verblendet, er taufte das Tier, wie man ein christlich Kind tauft, im Namen der heiligen Dreifaltigkeit. Darob verzürnete sich der liebe Gott und machte aus dem Lamm ein greulich Ungetüm, das fraß in einem fort, was ihm vorkam, fraß die ganze Alpe kahl, daß kein anderes Stück Vieh ein Hälmlein mehr fand, fraß Tag und Nacht. Bald waren die Engelsberger Triften abgeleert und guter Rat teuer. Da kam zu den Nachbarn, denen von Uri, ein fahrender Schüler, der gab Rat, das böse Untier zu vertreiben, war freilich eine langsame Kunst, und mußte, bevor sie ausgeführt wurde, noch manches Gräslein auf den Alpen wachsen und man cher Tropfen den Bach hinunterrollen. Und das war es, was der fahrende Schüler riet: Ein Stierkalb nehmt ihr, das füttert ihr bei Leib und Leben mit nichts als frischer Milch. Im ersten Jahr von einer Kuh, im zweiten von zwei Kühen und so fort, alle Jahre die Milch von einer Kuh mehr. Nach vollendeten neun Jahren laßt ihr den Ochsen durch eine reine Jungfrau hinauf auf die Alpe führen, dann wird der Ochse mit dem Untier kämpfen und es bezwingen. Das geschahe denn, die Urner erbauten einen Stall, darin sie das Stierkalb aufzogen, des Stelle zeigt man heute noch und nennt sie den Stierengaden.[30] Dann leitete nach vollendeten neun Jahren eine reine Jungfrau denselben zur Alpe hinauf und verließ ihn. Gleich erschien das greuliche Untier, und der Stier stürzte sich auf dasselbe und kämpfte lange und sehr heftig mit ihm, bis er es endlich überwand und zu Tode stieß. Ganz erhitzt von dem Kampfe rann der Stier nach dem Bache hin und trank und trank ohn Ende, bis er hinstürzte und auch tot war. Davon hat der Bach den Namen Stierenbach erlangt, und oberhalb desselben sieht man noch im Felsgestein die Hufe des Stieres eingedrückt, mit denen er sich im Kampfe gegen das ungeheuerliche Bergwunder stemmte.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 30-31.
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